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Experte zu Todeszahlen: "Lockdown kam zu spät"

Der Lockdown kam laut Experten zu spät.
Der Lockdown kam laut Experten zu spät. ©APA
Der Lockdown kam laut Gesundheitsökonom Thomas Czypionka ein bis zwei Wochen zu spät. Klar sei aber auch, dass die Todeszahlen ohne die Maßnahmen klar höher liegen würden. Zudem sind die Spätfolgen einer Coronaerkrankung noch nicht genau erforscht.
Todesfälle Mitte November so hoch wie zuletzt 1978

Der Gesundheitsökonom des Instituts für Höhere Studien (IHS), Thomas Czypionka, geht angesichts der hohen Todesfallzahlen davon aus, dass der Lockdown zu spät gesetzt wurde. "Man hätte den Lockdown früher machen müssen", sagte Czypionka im Gespräch mit der APA. Klar ist aus seiner Sicht allerdings auch, dass die Sterbefälle ohne die Covid-Maßnahmen deutlich höher liegen würden.

Besser späte Reaktion als keine Reaktion

Bei der ersten Infektionswelle im Frühjahr sei die Übersterblichkeit wegen des frühen Lockdowns im Rahmen geblieben. Jetzt gebe es eine relativ hohe Übersterblichkeit in Österreich, "weil man ein bisschen zu spät reagiert hat". Allerdings, so der Gesundheitsexperte: "Hätten wir nicht reagiert, wäre die Übersterblichkeit viel, viel höher."

"Der Lockdown ist gekommen, als man gesehen hat, dass die Zahlen deutlich höher als die Prognosen sind", sagt Czypionka. Der Eingriff sei eine oder zwei Wochen zu spät erfolgt. Deutschland habe vergleichsweise früher reagiert. Außerdem habe sich Deutschland besser auf den Herbst vorbereitet.

Auch auf Spätfolgen achten

Allerdings plädiert Czypionka dafür, nicht ausschließlich auf die Sterbefälle zu achten, sondern auch auf die Spätfolgen für die wieder gesundeten Patienten. "Gerade bei jüngeren Menschen sind Spätfolgen möglich", verweist der Gesundheitsexperte auf das Phänomen des "Long Covid", also Fälle mit schweren Nachwirkungen. Viele Patienten seien auch nach der Erkrankung deutlich in ihrer Fitness eingeschränkt. Aber auch die Anfälligkeit für andere Infektionskrankheiten könne steigen. Man dürfe daher "nicht nur auf die Übersterblichkeit schauen".

Für Popper kommen nach "Talfahrt" entscheidende Jänner-Wochen

Skifahren hin oder her - der weiche und harte Lockdown, sowie die möglichen Effekte der anstehenden Massentestungen werden die Covid-19-Zahlen in Österreich bis Jahresende voraussichtlich auf eine mehr oder weniger tiefe "Talfahrt" schicken. Für den Simulationsforscher Niki Popper von der TU Wien kommt jedoch dann im Jänner die entscheidende Zeit für die Dynamik des Infektionsgeschehens. Wie es sich in Richtung Februar entwickelt, hänge wieder stark vom Kontakt-Tracing ab.

Durch die Massentestungen wird sich zuerst die Zahl der nachgewiesenen Neuinfektionen deutlich erhöhen. Popper und sein Team integrieren in ihre Modelle Expertenannahmen, dass die Beteiligung zwischen 35 und 65 Prozent der Gesamtbevölkerung liegen könnte. Gleichzeitig ist mit einem bis Mitte des Monats noch durch den harten Lockdown bedingten Rückgang der auf herkömmlichen Weg neu registrierten Infizierten zu rechnen. Das heißt, dass es kurz nach Abschluss der Massentests am 14. Dezember auch einen markanten Knick nach unten bei den insgesamt neu dazukommenden Infizierten geben wird, erklärte Popper im Gespräch mit der APA.

Massentests lassen Zahlen in die Höhe schnellen

Entscheidend für die Wissenschafter ist, dass Möglichkeiten gefunden werden, um die Neuregistrierten aus den Massentests, die in einer Screening-Datenbank gespeichert werden, von den auf "normalem" Weg gefundenen Covid-19-Fällen zu unterscheiden. Diese Frage kläre man gerade mit den zuständigen Stellen, sagte der Wissenschafter, da sich sonst nicht sagen lässt, wie Lockdown und Massentests jeweils für sich gewirkt haben. Bis Ende Dezember sei dann mit niedrigen Zahlen zu rechnen. Wie niedrig diese sein werden hängt vom Lockdown, der Beteiligung an den Massentests und dem Contact-Tracing ab. "Wenn wir da höher lägen, müssten wir neu evaluieren - dann hat etwas gar nicht funktioniert."

In Richtung Monatsende werde aber auch erstmals ein weiterer großer Einflussfaktor sichtbar, nämlich wie sich die moderaten Lockerungen ab 7. und dann bis zum 23. Dezember auswirken. Dann sehe man auch, in welche Richtung es geht.

Je nach der bis dahin entstandenen Dynamik kommt es in dem Modell um die Feiertage und den Jahreswechsel zu einer Stabilisierung auf insgesamt niedrigem Niveau. Wenn alles klappt, würde man voraussichtlich im Bereich einiger hundert neuer Fälle täglich liegen. Wie die Dynamik sich ab Mitte Dezember entwickelt hat, sehe man dann. Auch ein geringes Wachstum auf höherem Niveau würde die Kurve wieder recht rasch nach oben zeigen lassen. Popper: "Insofern werden wir da genau hinschauen."

Fallzahlen Mitte Jänner entscheidend

Entscheidend für den weiteren Verlauf des Winters werden jedenfalls die Fallzahlen bis Mitte Jänner sein, "weil wir dann anfangen, zu sehen, wie sich Weihnachten und die Strategie auswirken", so der Forscher. Die Wirksamkeit des gültigen Maßnahmenpakets sei schwer vorherzusehen. Aktuell scheint auch regional die Beteiligung unterschiedlich zu sein. Liegt die Talsohle im Jänner insgesamt tiefer, ließe sich auch das Anwachsen der Fälle leichter drücken. Würde aber etwa nach den Weihnachtsferien wieder alles aufgehen, zeigen die Modelle auch wieder einen raschen Anstieg.

Spätestens im Jänner müsse daher klar definiert sein, ab welchen Entwicklungen mit welchen Maßnahmen gegengesteuert wird. Popper: "Werden wir wieder auf 7.000 oder 8.000 neue Fälle am Tag warten? Wo liegt der Wert, den wir gesellschaftlich akzeptieren?" Hier brauche es eine klare Linie in der Gesellschaft und in der Politik, ab wann wie reagiert werden muss. Danach könne man dann auch die Modelle anpassen.

Mitte Jänner wisse man in den Modellrechnungen "sozusagen was Sache ist, und ob wir ein Gesamtsystem haben, mit dem man das Geschehen im Griff haben kann". Das stehe und falle wiederum ganz klar mit einer regional funktionierenden Kontaktnachverfolgung. Die jeweils dazukommenden neuen Fälle dürfen nämlich die realen Kapazitäten beim Tracen nicht übersteigen, betonte Popper: "Uns würde zum Beispiel sehr interessieren, bis zu welchem Wert das 'Testen, Tracen, Isolieren' (TTI, Anm.) funktioniert. Dazu brauchen wir Daten zu den Kapazitäten, zum Prozess und zur Geschwindigkeit", weil man dann seitens der Prognoseforschung zeitgerecht Alarm schlagen könne, um dem gefürchteten steilen Anstieg beim TTI-System-Zusammenbruch entgegenzuwirken. "Hier sollte es unbedingt Transparenz geben", betonte Popper.

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(APA/red)

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