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Eine Seefahrtstragödie vor 200 Jahren: "Das Floß der Medusa" von Franzobel

Der österreichische Schrifsteller Franzobel legt einen neuen Roman vor
Der österreichische Schrifsteller Franzobel legt einen neuen Roman vor ©Zsolnay / APA/GEORG HOCHMUTH
Was bedeutet Moral, was Zivilisation, wenn es um nichts anderes geht als ums bloße Überleben? Fragen wie diese stellen sich rund um Franzobels neuen Roman, der auf einer wahren Begebenheit basiert - "Das Floß der Medusa" ist unser Buch-Tipp der Woche.

Franzobel, einer der produktivsten unter den heimischen Autoren, behandelt in seinem neuen Buch ewig aktuelle Fragen über die Natur des Menschen. Egoismus und Eitelkeit, Mut und Mitgefühl, Solidarität und Selbstüberschätzung, Ängstlichkeit und Aufopferungsbereitschaft – all das tritt nie deutlicher zutage als in Extremsituationen. Das mag für Regierungskrisen ebenso gelten wie für Naturkatastrophen. Und es gilt sicher für jene entsetzlichen Umstände, unter denen heute Tausende die Überfahrt nach Europa wagen und dies nicht selten mit dem Leben bezahlen.

Überlebenskampf im Abenteuerroman von Franzobel

In die Gegenrichtung, nämlich von Frankreich in den Senegal, war die Fregatte “Medusa” im Sommer 1816 unterwegs, als sie vor der westafrikanischen Küste auf eine Sandbank lief. Viel zu wenig Rettungsboote machten es notwendig, einen guten Teil der Mannschaft auf einem Floß unterzubringen. Nicht notwendig, ja geradezu barbarisch war es jedoch, dieses steuerungslos sich selbst zu überlassen. Nur ein Zehntel der Besatzung überlebte ein zweiwöchiges Martyrium, bei dem die Toten als Nahrung dienten. Das berühmte Monumentalgemälde, auf dem sich Theodore Gericault nach dem Bekanntwerden der Tragödie die Zustände auf dem Floß ausgemalt hatte, ziert auch den Umschlag von Franzobels “Roman nach einer wahren Begebenheit”.

Franzobel hat aus den damaligen Ereignissen nicht einfach einen Abenteuerroman gemacht (das ist sein packendes Buch freilich auch). Er hat viel recherchiert und sich mit den alten Seefahrtsbegriffen vertraut gemacht. Er hat sichtlich viel Spaß daran, jede Menge “Achterrahs”, “Vorleinen” und “Belegnägel” unterzubringen, macht das aber mit einem Augenzwinkern. Denn der Erzähler lebt in der Gegenwart und blickt zurück. Haie waren damals als Gattung “noch nicht von Steven Spielberg gesellschaftlich devastiert”, heißt es etwa, oder: “Uns Heutigen fallen da zuerst die Titanic und die Costa Concordia ein, die vielen gesunkenen Fähren in der Ägäis. Ständig geht ein Kahn zu Bruch.” Ganz hält er, selbst mitgerissen von den Geschehnissen, die leicht ironische Distanz freilich nicht durch.

Schiffspassagiere suchen ihr Heil in Afrika

Es ist eine bilder- und personenreiche Geschichte, die Franzobel erzählt. Viele auf der “Medusa” Eingeschiffte werden uns nahe gebracht, vom vollkommen überforderten Kapitän über die bunt zusammengewürfelte Mannschaft bis zu den Passagieren, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihr Heil in Afrika suchen. Geschickt lässt er die politischen Umbrüche jener Zeit mit einfließen, die Restauration Napoleons und die Verdammung aller republikanischen Errungenschaften der französischen Revolution.

Franzobel verzichtet auf einen zentralen Protagonisten und verliert mitunter Figuren über längere Zeit aus den Augen. Dafür entsteht ein vielschichtiges Bild aus unterschiedlichen Perspektiven und mit kräftigen Farben. Dass es im frühen 19. Jahrhundert insgesamt und in der Seefahrt insbesondere wenig zimperlich zuging, macht Franzobel detailfreudig deutlich.

Ein intensives, teils brutales Leseerlebnis

Da wird brutal ausgepeitscht, bestraft und gedemütigt, dass sich nicht nur das von zu Hause ausgerissene und als Küchenjunge angeheuerte höhere Söhnchen Viktor im siebenten Kreis der Hölle wähnt. Angenehmer Weise übt der Autor sich dagegen geradezu in Zurückhaltung, als es später darum geht, den blutigen Überlebenskampf von 147 Verzweifelten auf dem “Floß der Medusa” zu beschreiben.

Mag die Fahrt der “Medusa” einst ein schreckliches Ende genommen haben – seinen Roman steuert Franzobel souverän in den sicheren Hafen. Dass man als Landratte mitunter einen flauen Magen bekommt und sich beim hin und her Schlingern ordentlich am Schanzkleid anhalten muss, spricht nur für die Intensität dieses Leseabenteuers.

“Das Floß der Medusa” von Franzobel, Zsolnay Verlag, 592 S., 26,80 Euro

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(apa/red)

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