"Die Patienten sitzen komplett auf der Straße": Patientenanwalt warnt vor Versorgungslücke

Der Fall der Bregenzer Familie, die seit über einem Jahr für sich und die pflegebedürftige Großmutter keinen Hausarzt findet, hat zahlreiche Reaktionen ausgelöst. Patientenanwalt Alexander Wolf über die zunehmende Zahl an Anfragen zu fehlender hausärztlicher Versorgung.
Wöchentliche Hilferufe
Nicht nur die Bregenzer Familie sucht vergeblich nach einem Hausarzt. Die Patientenanwaltschaft für Vorarlberg hat regelmäßig mit der Thematik zu tun: "Sicherlich einmal in der Woche ruft bei uns irgendjemand an, findet keinen Hausarzt", erklärt Alexander Wolf im VOL.AT-Telefoninterview. Die Aufnahme sei schwierig. "Vor allem bei Pensionierungen oder wenn ein Patient einen neuen Hausarzt suchen will, weil er zum Beispiel mit dem Hausarzt nicht zufrieden ist oder dergleichen."
Es müsse die Möglichkeit bestehen, einen Hausarzt zu finden, bei dem eine vertrauensvolle Basis gegeben sei. "Das ist schwierigst", betont Wolf. "Sicherlich seit einem Jahr, wenn nicht seit eineinhalb Jahren, haben wir vermehrt Anfragen."

"Keine Chance. Abgelehnt."
Er schildert ein Beispiel: Eine 18-Jährige, bisher beim Kinderarzt betreut, sollte zu einem Hausarzt wechseln. "Der Kinderarzt hat zeitgerecht dargelegt: Bitte sucht euch einen Hausarzt", so Wolf. "Die Familie ist in einer größeren Gemeinde hausärztlich versorgt, wollte die 18-jährige Tochter beim Hausarzt in der Gemeinde unterbringen. Keine Chance. Abgelehnt."
Es sei ein großes Problem, mit dem man sich bereits an die Landesregierung und die Ärztekammer gewandt habe. Auch Schreiben an die ÖGK wurden in der Vergangenheit verfasst. "Von der ÖGK bekommen wir nicht einmal eine Rückantwort", betont Wolf.
Muss ein Hausarzt neue Patienten aufnehmen?
Rechtlich sei die Lage komplex: "Im Ärztegesetz steht drinnen, dass ein Hausarzt, ein Arzt, eigentlich niemanden effektiv übernehmen muss", verdeutlicht Alexander Wolf. Natürlich habe man als Patient einen Vertrag mit der Sozialversicherung, dass eine hausärztliche Versorgung gewährleistet werden müsse. "Die Sozialversicherung hat mit der Ärztekammer einen Vertrag. Es muss sichergestellt werden."
De facto gebe es die Erkenntnis, dass Ärzte jederzeit entscheiden können, wenn ihre Kapazitätsgrenze erreicht ist. "Das kann ein Arzt relativ schnell behaupten: Ich bin voll, ich habe 100 Leute am Vormittag", so Wolf gegenüber VOL.AT. Dann habe er die Möglichkeit, in der Regelversorgung – Notfälle sind ausgenommen – niemanden mehr aufzunehmen. "Da hocken die Patienten wirklich zwischen den Stühlen, also das ist eine Vollkatastrophe."
Notaufnahme statt Hausarzt?
Was rät Wolf Patienten, die keinen Hausarzt finden? "Wenn es wirklich etwas Akutes ist und sie finden keine hausärztliche Versorgung, dann ins Spital bitte." Es bleibe natürlich die Frage, was chronisch kranke Patienten angehe, die regelmäßig Medikamente benötigen und keinen Hausarzt haben. "Die stehen wirklich teilweise auf der Straße", so Wolf.

Das Krankenhaus sei keine Dauerlösung. "Das ist die teuerste Einheit und die sollte man natürlich entlasten", so der Patientenanwalt. "Wenn ein Kind spontan 40 Grad Fieber bekommt, dehydriert ist, nichts mehr zu sich nimmt und ich finde keinen Arzt, der das Kind behandelt. Dann muss ich es ins Krankenhaus bringen. Einen anderen Ratschlag können wir ihnen nicht geben."
"Keine adäquate hausärztliche Versorgung"
Was eine strukturelle Verbesserung angeht, meint der Patientenanwalt: "Wir haben das immer wieder deponiert, nur wir haben effektiv keine Handhabe, weil wir für den niedergelassenen Bereich nur bei Personenschäden zuständig sind." Man könne natürlich argumentieren, dass ein Schaden für den Patienten entstehe, wenn ein Arzt keine neuen Patienten mehr aufnehme. Die Beurteilung im Nachhinein, ob ein Schaden entstanden sei, ändere nichts an der Situation: "Das Problem ist, dass wir effektiv keine adäquate hausärztliche Versorgung haben", so Wolf. Darüber habe die Patientenanwaltschaft bereits im Jahresbericht berichtet.
Vor rund einem Dreivierteljahr hätten Funktionsträger der ÖGK Wien dargelegt, es brauche mehr Eigenverantwortung. Früher sei man auch nicht so schnell zum Arzt gegangen. Dem müsse er entgegnen: "Diese Funktionsträger müssen es schon den Patienten überlassen. Wenn sie verunsichert sind, wenn sie nicht mehr wissen, ist es gefährlich, ist es nicht gefährlich. Ich brauche eine hausärztliche Versorgung." Diese müsse dann zur Verfügung stehen, betont Wolf. "Das ist derzeit nicht gewährleistet."
Problem auch bei Krankenständen
Ein Problem sieht er auch bei Krankmeldungen: "Wenn ich heute krank bin als Arbeitnehmer, dann verlangt der Arbeitgeber von mir eine Krankmeldung", erklärt der Patientenanwalt. Und wie komme man ohne ärztliche Versorgung an eine Krankmeldung? "Es ist ein riesiges Problem, weil entweder sagt der Arbeitgeber, du bist unentschuldigt ferngeblieben oder du musst es auf Urlaub buchen", führt er aus. Wenn man dann beispielsweise erst drei Tage später einen Hausarzt finde, dann schreibe dieser einen Patienten erst ab diesem Moment krank.
"Wir sind praktisch ohnmächtig"
Die zuständigen Funktionäre würden nicht reagieren. "Von der Ärztekammer hören wir immer: Ja, wir schreiben es aus, aber es bewirbt sich niemand. Das ist mir auch verständlich." Er sehe auch ein, dass ein Arzt mit 120 Patienten an einem Vormittag keine neuen Patienten mehr aufnehme. "Es ist wirklich ein strukturelles Problem", gibt Alexander Wolf daher zu verstehen. "Wir können nichts raten. Wir sind praktisch ohnmächtig."

"Das ist absolut unbefriedigend"
Eine Lösung für Fälle wie den der Bregenzer Familie gibt es vorerst auch vonseiten der Patientenanwaltschaft nicht. "Es gibt keine", bestätigt Wolf. "Die Patienten sitzen komplett auf der Straße, mit den ganzen Problemen wie Krankmeldung, keine ärztliche Versorgung, verunsichert und im Notfall müssen sie wirklich das Krankenhaus aufsuchen." Dort komme man dann in die (Triage-)Ambulanz und höre Aussagen wie diese: "Das ist kein Fall fürs Krankenhaus, geht bitte zum Hausarzt." Teilweise werde man im Kreis geschickt. "Das ist absolut unbefriedigend, absolut nicht – meiner Ansicht nach – dem System entsprechend, weil jeder Patient, der Sozialversicherungsbeiträge zahlt, hätte ein Anrecht auf eine hausärztliche Versorgung. Und die wird von den Verantwortlichen nicht gewährleistet."
(VOL.AT)