Pflegeheim-Prozess in St. Pölten fortgesetzt
Die Anklage wirft den vier früheren Mitarbeitern eines Pflegeheims in Sitzenberg-Reidling im Bezirk Tulln vor Bewohnern u.a. zusätzliche Medikamente verabreicht zu haben, um sie ruhigzustellen. Demenzkranke sollen auch geschlagen worden sein. Das Quartett - bestehend aus drei Frauen und einem Mann - hat sich bei dem Prozess in St. Pölten nicht schuldig bekannt.
Staatsanwältin verweist in Schlussvortrag bei Pflegeheim-Prozess auf WhatsApp-Gruppe
"Es gab immer wieder Gerüchte und Andeutungen, das wollte aber lange Zeit keiner hören", verwies die Staatsanwältin im Schlussvortrag auf Zeugenaussagen, wonach Bewohner "sehr müde" gewesen seien. Zwei Mitarbeiterinnen hatten im März 2021 die Leitung des Senecura-Heims informiert, die daraufhin Strafanzeige erstattete. Leider gebe es keine Aussagen von den demenzkranken Bewohnern, das dürfe aber nicht zum Nachteil der Opfer sein, so die Staatsanwältin.
Als "objektive Beweismittel" führte die Staatsanwältin Nachrichten in einer WhatsApp-Gruppe an, in denen konkret Namen von Bewohnern und Medikamenten sowie Dosierungen genannt wurden. Geschrieben wurde unter anderem, dass Bewohner "gleich niedergespritzt" werden. Dass man in den Nachrichten Personen beschimpfe und "im Alltag ein liebevoller Pfleger ist, kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen", sagte die Staatsanwältin. Sie sah ein "schriftliches Geständnis" der 33-jährigen Angeklagten in Nachrichten mit ihrem Partner. Zudem wurden zahlreiche Medikamente ohne Zuordnung zu Bewohnern sichergestellt.
"Corona hat all das begünstigt"
Die Angeklagten "haben Bewohner handlungsunfähig gemacht, im Zimmer abgelegt und die Tür zugemacht", um ihre Ruhe zu haben, so die Staatsanwältin. Sie betonte auch, dass sich der Zustand vieler Opfer laut Zeugenaussagen gebessert hatte, nachdem das Dienstverhältnis mit den vier Beschuldigten nach Bekanntwerden der Vorwürfe beendet wurde.
"Corona hat all das begünstigt", meinte die Vertreterin der Anklagebehörde: "Man hat hier schalten und walten können, wie man wollte." Pandemiebedingt habe es monatelang keine Besuche von Ärzten oder Angehörigen gegeben. Überlastung sei keine Entschuldigung für die Taten, "man darf das auf keinen Fall an den Schwächsten auslassen", betonte die Staatsanwältin. Sie sprach sich für eine generalpräventive Strafe aus. Nach der Causa Pflegeheim Kirchstetten handle es sich um das zweite derartige "Katastrophenverfahren", so etwas dürfe nicht mehr wieder passieren.
Verteidigung beantrag in Pflegeheim-Prozess Freispruch für Angeklagte
Der Verteidiger der vier Beschuldigten wies die Anklagevorwürfe zurück. Es gebe keine Beweise, dass Bewohnern Medikamente verabreicht wurden, die nicht zulässig waren. Der Chatverkehr habe der "Reinigung der Psyche" gedient, meinte der Jurist. Die Handynachrichten und die sichergestellten Medikamente "reichen wirklich nicht aus, um meine Mandantschaft schuldig zu sprechen". Ob die Verabreichung von Mitteln einen Nachteil hatte, sei nicht geklärt.
Der Verteidiger räumte "gewisse Unzulänglichkeiten" ein. Die Anklage beinhalte Vorfälle, "die nicht passieren sollen, aber strafbar ist das nicht". Bewohnern seien "keine seelischen oder körperlichen Qualen" zugefügt worden, erklärte der Verteidiger. Die vorgeworfenen Tatbestände sah er nicht erfüllt: "Rein rechtlich geht sich das Ganze nicht aus." Der Jurist ersuchte um Freisprüche im Zweifel für seine Mandanten. Der Schöffensenat zog sich gegen 16.00 Uhr zur Beratung zurück.
Zuvor berichtete eine frühere Mitarbeiterin am sechsten Prozesstag von einer "sehr gedrückten Stimmung" damals auf der Station. Eine diplomierte Beschäftigte sagte: "Es war sehr ruhig. Diese Ruhe war irgendwie unangenehm." Nachdem die Angeklagten nicht mehr im Heim tätig waren, wurde es laut mehreren Zeuginnen "lebendiger" auf der Station. Bewohner seien wieder "aktiver" gewesen.
Angeklagten drohen bei Pflegeheim-Prozess lange Haftstrafen
Alle vier Beschuldigten - drei Frauen und ein Mann im Alter von 33 bis 46 Jahren - stehen seit Jänner wegen fortgesetzter Gewaltausübung vor Gericht. Der Erstangeklagten und dem 36-jährigen Mann wird zudem sexueller Missbrauch von wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Personen vorgeworfen. Die 46-Jährige muss sich außerdem - wie auch die 39-Jährige - wegen Quälens und Vernachlässigen wehrloser Personen verantworten. Die Anklage bezieht sich auf den Tatzeitraum März 2020 bis März 2021. Im Fall einer Verurteilung drohen bis zu zehn Jahre Haft.
(APA/Red)