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Zwischen Andacht und Auflösung: die choreografische Mystik des Tero Saarinen

Von der entrückten Schönheit von Borrowed Light bis zur spirituellen Suche in Study for Life – zwei Erstaufführungen der Tero Saarinen Company.

Wenn das Licht nicht nur beleuchtet, sondern offenbart, wenn Körper nicht nur tanzen, sondern beten, wenn Musik nicht nur begleitet, sondern trägt, dann ist man in der Welt des finnischen Choreografen Tero Saarinen angekommen. Im Juli sind zwei seiner Werke auf der Werkstattbühne der Bregenzer Festspiele als österreichische Erstaufführungen zu erleben: „Borrowed Light” (23. und 24. Juli) und „Study for Life” (30. und 31. Juli). Es handelt sich um abendfüllende Arbeiten, die sich jenseits des Spektakels ansiedeln und stattdessen auf die Kraft der Reduktion, die Schönheit der Askese und die Tiefe des Rituals vertrauen.

Visuelle und körperliche Choreografie

Der Titel „Borrowed Light“ entstammt einer architektonischen Praxis der Shaker – jener protestantischen Bewegung, die im Amerika des 18. und 19. Jahrhunderts ein Leben in spiritueller Disziplin, Keuschheit und Einfachheit kultivierte. Ihre Gebäude waren so konstruiert, dass Licht oft nur durch angrenzende Räume drang: nicht direkt, sondern gebrochen – geborgtes Licht. Saarinen verwandelt diese Idee in eine visuelle und körperliche Choreografie. Das von Mikki Kunttu gestaltete Licht durchdringt den Raum nicht frontal, sondern schräg. Es fragmentiert ihn, schafft Übergänge und Zonen des Schweigens, in denen der Tanz zu flüstern beginnt.

Die Tänzerinnen und Tänzer der Tero Saarinen Company bewegen sich in strengen Formationen. Die Geometrie der Schritte, die reduzierten Gesten, das Wiederholen und Variieren: Alles erinnert an einen sakralen Ritus. Es gibt keine dramatischen Höhepunkte, keinen erzählerischen Bogen und keine expressive Überladung. Stattdessen ist es ein meditativer Strom, in den sich das Individuum immer wieder einfügt – und umgekehrt. Es ist eine choreografierte Liturgie, in der die Körper nicht nur Träger von Bewegung sind, sondern Teil einer spirituellen Architektur.

Shaker-Hymnen

Musikalisch wird dieser Abend von der Boston Camerata unter der Leitung von Joel Cohen getragen, die originale Shaker-Hymnen live, unmittelbar und durchdringend singt. Diese Musik formt mit ihrer melodischen Schlichtheit und rhythmischen Klarheit das Fundament der Bewegung. Sie ist kein Hintergrund, sondern Herzschlag, Orientierung und Resonanzraum zugleich. Sie gibt den Tänzerinnen und Tänzern Halt – nicht im Sinne eines Taktschlags, sondern als spirituelle Spur.

Besonders eindrücklich ist die karge Bühne. Es gibt kein Bühnenbild und keine Requisiten. Nur Licht, Körper und Klang. Und dennoch entsteht Tiefe. Die von Erika Turunen entworfenen Kostüme orientieren sich an der Schlichtheit der Kleidung der Shaker: androgyn, neutralisierend, entindividualisierend – nicht als Entzug, sondern als Fokusverschiebung hin zur Essenz der Bewegung. So entsteht ein Raum der Stille, der Intensität und der Erinnerung. „Borrowed Light” ist weder Tanztheater noch Erzählung, sondern eine Erfahrung – körperlich, spirituell, poetisch.

The Hollow Men

Eine Woche später bringt Tero Saarinen mit „Study for Life“ eine neue Arbeit auf die Werkstattbühne – eine Koproduktion mit dem Asko|Schönberg Ensemble, dem Holland Fes-tival und den Bregenzer Festspielen. Das Werk ist eine Hommage an die im Jahr 2023 verstorbene Komponistin Kaija Saariaho, mit der Saarinen eine enge künstlerische Freundschaft verband. Bereits seit ihrer ersten Begegnung im Jahr 1991 entwickelte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit, die nun posthum in einem multidisziplinären Projekt gipfelt.

Im Zentrum steht Saariahos frühe Komposition „Study for Life” aus dem Jahr 1980, die auf T. S. Eliots Gedicht „The Hollow Men” basiert. Der Text kreist um die spirituelle Leere des modernen Menschen, um eine Welt nach dem Zusammenbruch, in der die Suche nach Sinn ins Fragmentarische geführt wird. Saarinen greift diese Themen auf und entwickelt daraus ein choreografisches Szenario zwischen Sehnsucht und Auflösung.

Sechs Tänzerinnen und Tänzer der Tero Saarinen Company, neun Musikerinnen und Musiker des Asko|Schönberg Ensembles sowie die Sopranistin Raquel Camarinha führen fünf von Saariahos Werken live auf. Dabei entsteht kein klassisches Bühnengeschehen, sondern ein immersiver Raum: Musiker und Tänzer bewegen sich frei, Publikum und Kunst durchdringen einander. Bühne und Zuschauerraum verlieren ihre Grenzen – es entsteht ein fluides Feld der Wahrnehmung.

Für Bühne und Kostüme zeichnen Erika Turunen, Fabiana Piccioli und Sander Loonen verantwortlich, während das raffinierte Sound-design von Tuomas Norvio die räumliche Dimension der Musik weiter öffnet. Klangfragmente, elektronische Verschiebungen und live gesungene Linien verschmelzen zu einer akustischen Landschaft, in der der Körper nicht nur Ausdruck, sondern auch Resonanzkörper ist. Die Choreografie reflektiert dabei keine Handlung, sondern ein existenzielles Empfinden. Isolation, Trauer und die Suche nach Bedeutung in einer Welt, die ihre Mitte verloren hat.

Rituelle Würde

Das Ergebnis ist eine 80-minütige Erfahrung von hoher emotionaler Dichte. Saarinen gelingt es, Saariahos musikalisches Denken in Bewegung zu übersetzen – nicht als Illustration, sondern als Erweiterung. „Study for Life“ ist dabei weniger Gedenkstück als Gegenwartskunst, eine Auseinandersetzung mit unserer Zeit, ihren Brüchen, ihrer Unübersichtlichkeit und ihrem Bedürfnis nach Transzendenz.

Beide Arbeiten, „Borrowed Light” und „Study for Life”, zeigen Tero Saarinen als einen Künstler, der dem Tanz seine rituelle Würde zurückgibt. Er unterwirft sich nicht dem Trend des Erzählens oder des Spektakels, sondern vertraut auf eine andere Form der Kommunikation: auf Stille, auf Wiederholung, auf Reduktion. Seine Stücke sind choreografierte Gebete, Bewegungsmeditationen über das Verhältnis von Körper und Geist, von Individuum und Gemeinschaft sowie von Sichtbarem und Unsichtbarem.

In einer Zeit der ständigen Reizüberflutung, der Dauerpräsenz und des expressiven Übermaßes setzt Saarinen auf das Gegenteil: Auf Konzentration, auf Leere und auf das, was sich erst in der Langsamkeit offenbart. In Bregenz sind diese beiden außergewöhnlichen Arbeiten nun erstmals in Österreich zu sehen. Ein Ereignis, das nicht nur Tanzliebhaber, sondern alle, die bereit sind, sich auf ein anderes Erleben von Zeit, Klang und Körper einzulassen, berühren dürfte. Ein Abend, der nicht unterhält, sondern verwandelt.

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