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Zivilisten aus Mariupol über ihr Überleben im Ukraine-Krieg

Zivilisten aus Mariupol erzählen von ihrem Überleben in der zerstrümmerten Stadt.
Zivilisten aus Mariupol erzählen von ihrem Überleben in der zerstrümmerten Stadt. ©REUTERS/Alexander Ermochenko
Das Alltagsleben der Zivilisten in Mariupol hat sich durch Krieg und Belagerung drastisch verändert. Die Mariupoler erzählen von der Suche nach Nahrung und Wasser, Leid und Tod.
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Bis vor wenigen Wochen arbeitete Inna aus dem ukrainischen Mariupol als Friseurin. Jetzt ist sie von morgens bis abends damit beschäftigt, Wasser und Lebensmittel in der von russischen Truppen eroberten Stadt zu organisieren. "Man ist die ganze Zeit nur am Rennen", sagt die 50-Jährige. In der Hand hält sie zwei leere Wasserkanister.

"Du rennst, um eine Stelle zu finden, an der Wasser verteilt wird. Danach dorthin, wo Brot verteilt wird. Und dann musst du dich anstellen, um eine Ration zu bekommen", erzählt Inna von ihrem neuen Alltag.

Zivilisten aus Mariupol erzählen von ihrem Überleben im Krieg

Fast zwei Monate belagerte und beschoss die russische Armee die Stadt im Südosten der Ukraine. Seit Mitte April kontrolliert sie die Stadt fast vollständig zusammen mit prorussischen Separatisten. Reporter der Nachrichtenagentur AFP besuchten Mariupol im Rahmen einer von den Besatzern organisierten Pressetour.

Weite Teile von Mariupol liegen in Trümmern

Weite Teile der einst so lebendigen Hafenstadt liegen in Trümmern. Im Osten ist kein einziger Wohnblock intakt geblieben: Die Fassaden sind verkohlt oder von Granaten aufgerissen, einige Gebäude sind eingestürzt. Die Geschäfte wurden geplündert. Auf dem Grünstreifen in der Mitte eines Boulevards wurden Gräber ausgehoben. Es gibt kein fließendes Wasser, keinen Strom, kein Gas, kein Mobilfunknetz und kein Internet.

Separatisten verteilen Lebensmittel vor einer Schule in Mariupol

An diesem Tag organisieren die Separatisten die Verteilung von Lebensmitteln vor einer Schule, deren Fassade von Einschusslöchern übersät ist. Etwa 200 Menschen drängen sich hinter einem Militärlastwagen. Nudeln, Öl und einige Konserven sind darin, darauf prangt ein "Z", das Symbol des russischen Angriffskrieges. Weiter hinten stehen zwei Tanklastwagen mit Trinkwasser. Ein alter Mann hat einen klapprigen Kinderwagen mit Paketen und Kanistern voll beladen.

Vor den benachbarten Wohnblocks stehen die Bewohner um Kochstellen. Umrandet von vier Mauersteinen brennen Feuer, darauf Töpfe und Teekannen. Ein beißender Gestank liegt in der Luft. In zwei großen blauen Fässern wird Wäsche gewaschen.

Irina: "Wir leben hier nicht, wir überleben"

"Wir leben hier nicht, wir überleben", beschreibt Irina ihre Situation. Die 30-Jährige ist Entwicklerin für Videospiele. Aus ihrem Rucksack schaut ein Yorkshire Terrier heraus. Warum harren Menschen unter diesen Umständen in der Stadt aus?

"Ich würde gerne weggehen. Aber wohin?", fragt Kristina Burdjuk, eine 25-jährige Apothekerin. Sie ist mit ihren beiden kleinen Mädchen auf dem Heimweg, jede drückt einen Laib Brot fest an sich.

450.000 Einwohner hatte Mariupol vor dem russischem Angriff

Viele der einst 450.000 Einwohner sind aus Mariupol geflohen. Sie habe gesehen, wie Autos "mit Familien, mit Kindern" von Kugeln durchsiebt wurden, sagt Burdjuk. Deshalb bleibt sie mit ihrer Familie lieber. Und überlegt, für die neuen Behörden zu arbeiten, die, wie sie sagt, Leute suchen, die Trümmer wegräumen, Leichen einsammeln oder die Stadt von Minen befreien - für einen Lohn in Rubel. "Inzwischen bin ich zu allem bereit", sagt sie.

Die Menschen in Mariupol sind verunsichert über ihre Zukunft

Während der Lebensmittelverteilung geht eine Frau auf einen der neuen Machthaber zu und herrscht den Mann im Kampfanzug an. Binnen Sekunden bildet sich eine Menschentraube. "Wann bekommen wir unsere Pensionen?", "Wann werden die Schulen wieder geöffnet?", "Was ist mit den Geschäften?", wollen die Menschen wissen. "Wir tun unser Bestes. Die Sicherheit und die Aufräumarbeiten haben Vorrang", versucht der Uniformierte die aufgebrachte Menge zu besänftigen. "Wir haben Ihnen konkrete Fragen gestellt, antworten Sie konkret!", entgegnet ihm ein junger Mann wütend.

Ohne Internet und Handy kommen Zivilisten schwer an Informationen

Ohne Internet und Handy ist es schwer, in Mariupol an Informationen zu gelangen. Einzige Nachrichtenquelle ist für die Videospielentwicklerin Irina das batteriebetriebene Radio ihres Nachbarn, das aber nur einen prorussischen Sender empfängt. Sie glaubt, dass "das Schlimmste vorbei ist" und will "noch ein paar Wochen, ein paar Monate durchhalten, bis sich die Lage verbessert hat". Sie kann es kaum erwarten, bis die Telefone wieder funktionieren und sie ihrer Zwillingsschwester sagen kann: "Ich lebe, deine Schwester lebt."

(APA/Red)

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