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Wiens wahre Geisterbahn: Im Dickicht von Breitenlee

Auf der Suche nach Europas einst größtem Verschubbahnhof machte sich Andreas Tröscher auf in den "Urwald von Breitenlee". Eine Spurensuche im Nirgendwo.

Manche meinen, Breitenlee sei schon näher bei Bratislava als bei Wien. Dabei gehört das ehemalige Dorf hochoffiziell zum 22. Bezirk. Aber irgendwie muss man diese Abgeschiedenheit ja in Worte fassen. Der Donauturm zum Beispiel ist so weit weg, dass er hinter den begrünten Hügeln der Mülldeponie einfach verschwindet. Wer nach Breitenlee kommt und nicht dort wohnt, muss sich verirrt haben. Oder sucht nach etwas ganz bestimmtem, einem monströsen Gebilde, über das seit dreiundachtzig Jahren dichter Urwald wuchert.

Faszinierend sind die Luftbilder aus dem Internet. Sie zeigen eine gewaltige Fläche, eine Gstettn von ungeheuren Ausmaßen. Mehrere Hektar groß ist sie, dunkel, verwachsen – und, wenn man sie durchstreift, ziemlich gespenstisch. Am mutigsten sind noch die Schrebergärtenhäuschen. Sie haben sich ganz nah an den Riesen herangepirscht. Viel ist von ihm allerdings nicht mehr übrig. Wer Pech hat, stolpert über seine morschen Gebeine – rostige Schienenstränge. Und trotzdem wird immer noch vor ihm gewarnt: “Gem. Eisenbahngesetz 1957 §43/1 ist Unbefugten das Betreten der Eisenbahnanlagen verboten”, herrscht eine Tafel.

1916 war die Hölle los in Breitenlee. Der Kostenvoranschlag von acht Millionen Kronen bewilligt, wichen die Planer schon bald den Bautrupps. Bis zu 100 Gleispaare nebeneinander sollten gelegt werden, dazu Rundlokschuppen mit Drehscheibe, Wasserstation, Werkstätte, Heizhaus, Kohlenbunker. Rund 100 Mann pro Schicht waren vorgesehen. Arbeitskraft gab es genügend – 6.000 Kriegsgefangene wurden zum Zupacken gezwungen.

Als der erste Teil des Verschubbahnhofes 1922 eröffnet wurde, war allerdings nicht nur die mächtige Straßenbrücke, die ihn querte, schon drei Jahre in Betrieb, es mehrten sich auch erste Zweifel der Finanzbehörde. Und sie sollte recht behalten: Die Inflation trieb in der Folge die Baukosten dermaßen in die Höhe, dass die Arbeiten im Dezember 1923 eingestellt wurden. Sie sind nie mehr aufgenommen worden. 1926 wurde die Anlage gesperrt.

Grillen kreischen in der Gluthitze, im Unterholz knistert es permanent, Rebhühner flattern panisch aus dem Dickicht, aus der Ferne ist das Geknatter eines Mopeds zu hören, Vater und Sohn kämpfen sich, mit Fußball bewaffnet, durchs Gestrüpp. “Ja, freilich kann ich mich erinnern.” Ein Kleingärtner mit freiem Oberkörper und Gartenschlauch wirft die grauen Zellen an. “Über die Brücke bin ich selber noch drübergefahren.” Er blinzelt in die Sonne und deutet auf die beeindruckenden, rund zehn Meter hohen Pfeiler, die in Reih und Glied aus dem Urwald ragen. Auf den gesperrten Rampen spielen Kinder aus der Siedlung fangen. Aber Züge? Nein, Züge wären hier nie durchgekommen. “Das muss lang vor meiner Zeit gewesen sein”, lässt der lustige ältere Herr sein Bäuchlein tanzen.

In Breitenlee sollte der größte Verschubbahnhof Europas entstehen. Doch statt kilometerlangem Gleisgewirr erstreckt sich dort heute nahezu unberührte Wildnis und somit eine echte Großstadtrarität. Schön eigentlich, dass Breitenlee zu Wien gehört. Und nicht zu Bratislava.
Andreas Tröscher/APA

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