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Unpolitischer Song Contest ist reine Illusion

Der Eurovision Song Contest in Turin wird vom Ukraine-Krieg überschattet.
Der Eurovision Song Contest in Turin wird vom Ukraine-Krieg überschattet. ©AP Photo/Luca Brun
Dass der Eurovision Song Contest eine unpolitische Veranstaltung sein muss, ist explizit im umfassenden Regelkatalog des Bewerbs festgehalten. In der Praxis sieht die Sache jedoch anders aus.
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"Der ESC ist eine unpolitische Veranstaltung" - so explizit ist der Charakter des Events in den offiziellen Regeln der European Broadcasting Union als Veranstalter des Eurovision Song Contest festgehalten. Oder besser gesagt: Der Charakter, den man gerne hätte. Denn selbstredend ist der heurige Ausschluss Russlands vom Bewerb in Turin nach dem Angriff auf die Ukraine nicht der erste und mutmaßlich nicht der letzte politische Akt in der ESC-Geschichte.

Song Contest: Das politische Event, das nicht politisch sein darf

Es ist ein beinahe griechisches Dilemma, muss der Bewerb selbstredend in seiner Eigendefinition die Fahne des musikalischen Bewerbes hochhalten und darf möglichst keinerlei politische Äußerungen coram publico zulassen, um sich nicht selbst zum Spielball der Interessen machen. Und zugleich ist just das immer wieder eine Illusion.

Im umfassenden Regelkatalog des Bewerbs ist jedenfalls expressis verbis festgehalten, dass alle teilnehmenden TV-Stationen dafür Sorge tragen müssen, dass der ESC "unter keinen Umständen politisiert und/oder instrumentalisiert und/oder anderweitig in Misskredit gebracht wird". Es gelte, die "ESC Werte" zu beachten: "Universalität, Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion sowie die stolze Tradition, die Vielfalt durch die Musik zu feiern."

Vorgaben zu politischer Neutralität sorgen immer wieder für Konflikte

Das sollen auch die Mitglieder der nationalen Jurys beachten, deren Stimmen immerhin 50 Prozent zum Endergebnis beitragen: "Bei der Abstimmung sollen die Jurymitglieder ihre professionellen Kenntnisse sprechen lassen, ohne einen Kandidaten wegen seiner Nationalität, seines Geschlechts oder ähnlichem zu bevorzugen." Nun gut.

Diese Vorgaben führten jedenfalls immer wieder zu Konflikten. Da ist heuer die Favoritenrolle der ukrainischen Vertreter, der Band Kalush Orchestra mit "Stefania", nur ein Beispiel. Nachdem Russland wegen der Invasion in die Ukraine vom Bewerb ausgeschlossen wurde, entsendet Kiew nun die Rap-Folklore-Truppe - nachdem zuvor die ursprünglich im Vorentscheid gekürte Alina Pash wegen einer kritisierten Reise auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim 2015 ihre Teilnahme zurückzog.

Ukraine-Krieg überschattet Song Contest in Turin

Sollte Kalush am Samstag nun wirklich den Solidaritätssieg nach Hause holen, stellt sich die Frage, was mit dem Song Contest 2023 passiert, ist doch zum jetzigen Zeitpunkt noch völlig unklar, ob der Megabewerb dann in der Ukraine stattfinden könnte. Das hinge letztlich von der Kriegslage respektive der Gesamtsituation ab.

Noch hält sich die EBU verständlicherweise bedeckt. Schließlich hat man Erfahrungen mit derlei Unbilden, nicht zuletzt mit Russland. So entspann sich etwa 2009 eine Debatte mit Georgien, das ein Jahr nach der russischen Intervention in seinem Land beim ESC in Moskau mit dem Anti-Putin-Lied "We Don't Wanna Put In" antreten wollte - und nach Protest der EBU schließlich auf eine Teilnahme verzichtete. Und nach der Krim-Annexion 2014 bekamen die russischen Tolmachevy Sisters in Kopenhagen mit Pfiffen den Unmut des Publikums zu spüren.

Konflikte zwischen Ländern nicht selten Thema beim ESC

Russland ist aber nicht der einzige unsichere Kantonist im Song-Contest-Reigen. Beispielsweise boykottierte Griechenland den Bewerb 1975 wegen des ausgebrochenen Zypernkonflikts. Schließlich nahm Kriegsgegner Türkei damals erstmals am ESC teil. Und auch der Dauerkonfliktherd Naher Osten sorgte immer wieder für Kontroversen. So machten etwa 1979 arabische Staaten Druck auf die Türkei, die Teilnahme wegen der Beteiligung Israels abzusagen. Vor drei Jahren gab es dann Boykottforderungen einer Initiative wegen der israelischen Besatzung der Palästinensergebiete. Und während der Jugoslawienkriege war der von Slobodan Milosevic beherrschte, serbisch dominierte Reststaat ab 1993 für zehn Jahre von der EBU ausgeschlossen worden. Das Politische beim unpolitischen Event hat also Tradition.

Alles zum Eurovision Song Contest lesen Sie in unserem Special

(APA/Red)

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