Erstmals seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat Staatschef Wolodymyr Selenskyj den Osten des Landes besucht. Sein Büro veröffentlichte am Sonntag im Messengerdienst Telegram ein Video, das Selenskyj mit einer kugelsicheren Weste in Charkiw und Umgebung zeigte. Der Staatschef kündigte an, "in Charkiw und allen anderen Städten und Dörfern, über die das Böse hereinbrach", würden die zerstörten Häuser wieder aufgebaut. Er sagte, das Land "bis zum letzten Mann" zu verteidigen.
"In diesem Krieg versuchen die Besatzer, wenigstens irgendetwas als Ergebnis herauszupressen", sagte Selenskyj. "Aber sie müssten schon lange begriffen haben, dass wir unser Land bis zum letzten Mann verteidigen werden. Sie haben keine Chance. Wir werden kämpfen und wir werden in jedem Fall siegen."

In Charkiw und Umgebung seien 2.229 Gebäude zerstört worden, sagte der ukrainische Präsident, der sich seit Beginn des Krieges am 24. Februar in der Hauptstadt Kiew aufgehalten hatte. Im Video war zu sehen, wie ukrainische Soldaten dem Präsidenten zerstörte Fahrzeuge am Rande eines Feldweges zeigen.
Schwere Waffen gefordert
"Wenn der Westen wirklich den Sieg der Ukraine will, ist es vielleicht Zeit, uns MLRS zu geben?", schrieb Mychajlo Podoljak, Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, am Wochenende bei Twitter. MLRS sind in den USA hergestellte Mehrfachraketenwerfer mit einer Reichweite von bis zu mehreren Hundert Kilometer. Russland hielt auch am 95. Kriegstag den militärischen Druck im Osten des Landes hoch und brachte die Ukraine damit immer stärker in Bedrängnis.
Besonders umkämpft ist Sjewjerodonezk in Luhansk. Russisches Militär hat die ostukrainische Stadt fast komplett umstellt. Zuvor hatte es nach eigenen Angaben die strategisch wichtige Kleinstadt Lyman erobert. Experten halten die russischen Angriffe aus verschiedenen Gründen inzwischen für schlagkräftiger als zu Beginn des Krieges.
EU-Kommission: Kompromiss zu Öl-Embargo
Im Streit über die Pläne für ein europäisches Öl-Embargo gegen Russland legte die EU-Kommission am Wochenende einen neuen Kompromissvorschlag vor. Der Entwurf sieht nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur vor, zunächst nur die Einfuhr von per Schiff transportiertem Öl auslaufen zu lassen. Über die riesige Druschba-Pipeline transportiertes Öl wäre demnach bis auf Weiteres von dem Embargo ausgenommen. Damit könnte Russland einen Teil seiner Geschäfte mit Unternehmen in der EU fortführen. Laut EU floss zuletzt rund ein Drittel der Gesamtliefermengen durch die Druschba-Pipeline. Diese versorgt Raffinerien in Ungarn, der Slowakei und Tschechien sowie in Polen und Deutschland.
Über die Pläne für ein Einfuhrverbot für russisches Öl gibt es in der EU bereits seit Wochen Streit, weil Ungarn bislang nicht gewillt war, das Projekt zu unterstützen. An diesem Montag und Dienstag dürfte der Kompromissvorschlag auch Thema bei einem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel sein. Bei diesem soll es um die weitere Unterstützung der EU für die Ukraine, aber auch um die Bemühungen gehen, unabhängig von russischen Energieträgern wie Gas und Öl zu werden.
Selenskyj in der Region Charkiw
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte sich in der umkämpften Region Charkiw ein Bild von der Zerstörung durch den Krieg. Am Sonntag im offiziellen Telegram-Kanal des Präsidenten verbreitete Videoaufnahmen zeigten Selenskyj unter anderem dabei, wie er Soldaten auszeichnete. "Ich bin grenzenlos stolz auf unsere Verteidiger. Jeden Tag kämpfen sie unter Einsatz ihres Lebens für die Freiheit der Ukraine", sagte Selenskyj.
Experte für Lieferung schwerer Waffen
Um die derzeit schwierige Situation der Ukraine im Kampf um den Donbass zu verbessern, plädierte der Politologe und Militärexperte Carlo Masala für die Lieferungen schwerer Waffen. Russlands Präsident Wladimir Putin werde erst dann ernsthaft zu verhandeln beginnen, wenn er befürchten müsse, durch eine Fortführung des Krieges mehr zu verlieren als zu gewinnen, sagte Masala, der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München ist. Genau das aber sei derzeit nicht der Fall. "Man muss die Kosten-Nutzen-Kalkulation bei Putin verändern", sagte Masala der Deutschen Presse-Agentur.
Für den Westen sind Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine ein Drahtseilakt, da niemand genau sagen kann, ob und ab wann eine solche Unterstützung von Russland als Kriegsbeteiligung gewertet wird.
Putin warnt
Kremlchef Putin warnte am Wochenende bei einem Telefonat mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron vor der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Das berge das Risiko einer weiteren Destabilisierung der Lage und der Verschärfung der humanitären Krise, sagte Putin einer vom Kreml veröffentlichten Mitteilung zufolge. Scholz und Macron forderten in dem 80-minütigen Gespräch erneut ein Ende des Krieges.
Mit Blick auf die Nahrungsmittelkrise sagte Putin bei dem Telefonat, die "fehlerhafte Wirtschafts- und Finanzpolitik der westlichen Staaten" sowie die "antirussischen Sanktionen" seien für die Probleme verantwortlich. Die Bundesregierung weist stets darauf hin, dass es keine Sanktionen gegen Lebensmittel gebe.
Die Ukraine warf Russland Erpressung vor, den Kampf gegen den Hunger in der Welt mit der Sanktionsfrage zu verbinden. "Sanktionen gegen Russland haben nichts mit der sich abzeichnenden globalen Nahrungsmittelkrise zu tun", teilte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba per Twitter mit. Der einzige Grund für Engpässe, steigende Preise und drohenden Hunger sei, dass das russische Militär 22 Millionen Tonnen ukrainischer Lebensmittelexporte an ukrainische Seehäfen blockiere.
Botschafter: Kein Einsatz von Atomwaffen
Der russische Botschafter in London, Andrei Kelin, rechnet nicht damit, dass sein Land in der Ukraine Atomwaffen einsetzen wird. Nach den Regeln des russischen Militärs sei dies nur vorgesehen, wenn Russland in seiner Existenz bedroht sei, sagte Kelin in einem BBC-Interview. "Das hat nichts mit der aktuellen Operation zu tun." Auch die Frage, ob er glaube, dass Präsident Wladimir Putin im Fall einer Ausweitung des Krieges bereit sei, einen nuklearen Angriff auf Großbritannien zu verüben, verneinte der Botschafter. Dieses und ähnliche Szenarien waren vor einigen Wochen im russischen Staatsfernsehen öffentlich diskutiert worden.
Unterdessen dämpfte SPD-Chefin Saskia Esken Erwartungen an eine exakte, jährliche Einhaltung des sogenannten Zwei-Prozent-Ziels bei deutschen Verteidigungsausgaben. "Wir werden das Zwei-Prozent-Ziel nicht in jedem Jahr gleichermaßen erreichen", sagte Esken der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Als Grund nannte die SPD-Vorsitzende Schwankungen bei der Beschaffung von Rüstungsgütern. Das Zwei-Prozent-Ziel besagt, dass jedes Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investiert werden sollen. Dies hatten sich die Nato-Mitglieder versprochen.
(dpa)