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Türkei wäre erstes EU-Land mit einer "Stammeskultur"

"Wenn die politischen Führer der Europäischen Union im Dezember der Türkei ein Datum für die Aufnahme formeller Beitrittsverhandlungen nennen sollten, dann wäre die Türkei das erste Land mit einer traditionellen Stammeskultur."

So schrieb der türkische Journalist Burak Bekdil kürzlich in einem Kommentar. Und er mokierte sich über die Brüsseler Experten, die in ihren Luxushotels in Istanbul über die moderne Türkei staunen.

Das Ganze habe einen Haken, meinte der Kommentator kritisch: Die Türkei sei eben nicht nur ein Ebenbild dessen, was der enthusiastische Besucher am Ufer des Bosporus erblicke. Eine Aufnahme der Türkei in die EU würde bedeuten, ein perfekt europäisches Land aufzunehmen, zugleich mit einigen anderen Ländern von der Kategorie „weniger europäisch“ bis zur Kategorie „nahöstliches Stammesland“. Die Konklusion des Autors: „Die Türkei ist wie ein Sonderangebot: Kauf eines, dann kriegst du fünf andere gratis dazu!“

Dass in der Südosttürkei andere Gesetze herrschen als jene, welche das Parlament in Ankara beschließt, zeigen immer wieder Gewaltakte, die im Westen gemeinhin mit Afghanistan oder dem Irak assoziiert werden. Clan-Chefs lehren mit Mafia-Aktionen nicht nur die Sicherheitskräfte das Fürchten, sondern auch die Regierung in Ankara. Statt nach den Tätern zu fahnden und ihre kriminellen Machenschaften zu ahnden, wird dann gegen jene ermittelt, die den Mund nicht gehalten und die Vorgänge an die Öffentlichkeit gebracht haben.

So geschehen im „Fall Van“. Mustafa Bayram befehligt in der armen Region an der iranischen Grenze einen kurdischen Stamm mit 100.000 Mitgliedern. Der türkischen Justiz ist der Mann mit guten Polit-Kontakten wegen Mordes und Drogenschmuggels bekannt. Als sein Sohn Hamit jüngst mit 40 Kilo Heroin gefasst und in Gewahrsam genommen wurde, überfiel der Vater mit 30 schwer bewaffneten „Stammeskriegern“ die Polizeistation und befreite nicht nur den Sohn, sondern nahm auch die Beute wieder mit. Von Bayram jun. und dem Heroin fehlt seitdem jede Spur.

Damit nicht genug. Nach offizieller Version sei es bei dem Überfall auf die Polizeiwache nur zu einem Handgemenge gekommen. Laut einer anonymen E-Mail feuerte hingegen die Bayram-„Garde“ auf die Polizisten. Den acht verletzten und später im Spital heimlich behandelten Polizeibeamten sei Schweigegeld angeboten worden. Inzwischen wurde auf öffentlichen Druck eine Untersuchung eingeleitet, aber nicht gegen die flüchtigen Täter, sondern um das Informations-„Leck“ ausfindig zu machen, wie eine Zeitung süffisant vermerkte.

Die ganze Geschichte hat nach Mutmaßungen der türkischen Presse einen handfesten politischen Hintergrund und ist das Produkt politischer Seilschaften. Mustafa Bayram saß einmal als Abgeordneter der konservativen Mutterlandspartei ANAP im Parlament, wo er dann zur fundamentalistischen Refah-Partei von Necmettin Erbakan wechselte. Angeblich rief Bayram nach der Festnahme seines Sohnes den Innen- und den Bildungsminister in Ankara an – letzterer stammt aus Van – und bedrohte sie. Als die Affäre in der Öffentlichkeit ruchbar wurde, kam Bayram sen. kurz in Haft, wurde aber flugs gegen Kaution wieder frei gelassen.

Bedroht wurde inzwischen auch Oppositionsführer Deniz Baykal, Chef der sozialdemokratischen CHP, die eine Delegation nach Van entsandte und eine parlamentarische Untersuchung der „Van-Affäre“ forderte. Denn die örtlichen Beamten seien von der AKP ernannt und daher befangen. Das rief wiederum den regionalen Ex-Abgeordneten der islamischen Regierungspartei AKP, Mikail Ilcin, auf den Plan. „Lass deine Hände von Bayram, oder du wirst es bereuen“, drohte der AKP-Mann dem CHP-Chef auf einer Pressekonferenz. Übrigens war Ilcin früher CHP-Mitglied gewesen.

Die einzigen Brötchengeber für die Bevölkerung in den rückständigen Kurden-Gebieten sind oft der Staat und die Stammesführer. Die Stammesangehörigen vertrauen den Regeln des jeweiligen Clan-Chefs oft mehr als den Gesetzen des Staates. Oft sind diese Clan-Chefs als Geschäftsleute in diversen Sektoren aktiv, zu denen nicht selten auch der Heroinschmuggel zählt. Ihnen wird oft auch eine Nähe zu den kurdischen PKK-Rebellen nachgesagt, denn in deren Gebiet können sie sich dem Zugriff staatlicher Kontrollen entziehen.

Ein Merkmal von Stammesgesellschaften ist auch das offiziell genehmigte Waffentragen von Zivilisten im Alltag. Auf Grund traditioneller öffentlicher Positionen oder berufsbedingt haben in der Nordost- und Südosttürkei zahlreiche Personen einen Waffentrageschein. Hunderttausende Waffen dürften so offiziell im Einsatz sein, und schätzungsweise noch einmal so viele illegal.

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