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Türkis-grüne Regierung: Pflege als erstes gemeinsames Vorhaben

Am Mittwoch waren Anschober, Kogler und Kurz zu Besuch im "Haus der Barmherzigkeit" in Wien-Ottakring.
Am Mittwoch waren Anschober, Kogler und Kurz zu Besuch im "Haus der Barmherzigkeit" in Wien-Ottakring. ©APA/Hans Punz
Die Pflegereform soll von der Regierung als erstes in Angriff genommen werden. Am Montag statteten Kurz, Kogler und Anschober dabei dem "Haus der Barmherzigkeit" in Wien-Ottakring gleich einen Besuch ab.
Regierung im "Haus der Barmherzigkeit"

Die neue Bundesregierung hat als erstes inhaltliches Thema die Pflegereform auserkoren. Bei einem Besuch im "Haus der Barmherzigkeit" in Wien verkündeten Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler und Sozialminister Rudolf Anschober (beide Grüne) am Montag die ersten diesbezüglichen Vorhaben. Geplant sind die Einrichtung einer Zielsteuerungskommission und ein Schulversuch.

Zielsteuerungsgruppe soll Pläne der REgierung umsetzen

Die Zielsteuerungsgruppe aus Bund, Ländern und Gemeinden soll die Pläne der Regierung in konkrete Vorhaben gießen. Türkis-Grün plant ein Bündel an Maßnahmen, um das Pflegeproblem zu lösen. Dazu zählt die Bündelung der Finanzierungsströme, die Schaffung einer Pflegeversicherung, ein "Pflege-Daheim-Bonus", der Ausbau der Pflegekräfte und Schritte zur Prävention von Pflegebedürftigkeit.

"Wir haben einen starken Sozialstaat und da gehören das Altern in Würde und die bestmögliche Versorgung dazu", sagte Kurz. Er bedankte sich bei den Pflegekräften des Heimes in Wien-Ottakring für ihre wertvolle Arbeit und versprach vonseiten der Politik eine nachhaltige Lösung der Probleme im Pflegebereich. Als erstes nannte er die Finanzierung. "Wir wollen diese leidige Debatte zwischen Bund und Ländern beenden."

Plege: Das sind die Pläne der neuen Regierung

Zum Ausbau der Pflegekräfte schweben der Regierung eine dreijährige Fachschule sowie eine fünfjährige höhere Ausbildung vor. Den Bedarf an Pflegekräften bezifferte Kogler mit 75.000 bis 2030, das seien 4.000 bis 7.000 pro Jahr. Sozialminister Anschober kündigte erste Beschlüsse im Ministerrat am Mittwoch an, darunter ein Schulversuch mit 150 Schülern in der ersten Phase. Insgesamt werde es "ein großes Bündel an Maßnahmen geben". Diese werden aber erst in der Zielsteuerungsgruppe ausgearbeitet.

Einen genauen Zeitrahmen für die Vorhaben nannte die Regierung nicht, auch keine konkreten Zahlen. Die Zielsteuerungsgruppe werde einen Etappenplan ausarbeiten, sagte Anschober.

Kurz versprach aber, dass es mehr Geld geben und die Pflege auch künftig großteils vom Bund finanziert werde. Die geplante Versicherung soll zunächst keine zusätzlichen Sozialabgaben verursachen, sondern über bestehende Mittel durch Verschiebungen und Hebung von Potenzialen finanziert werden. Der ÖVP schwebt u.a. eine Finanzierung über Mittel der Unfallversicherung AUVA vor. Im ersten Schritt sollen die Sozialabgaben jedenfalls nicht steigen, er könne aber nicht sagen, was in 30 Jahren sein werde, so Kurz. Pflegebedürftigkeit sei ein "Lebensrisiko", zu dem man sich bekennen müsse.

Türkis-grüne Charmeoffensive im Pflegeheim

Ungewöhnlichen Besucherandrang erlebte das Pflegeheim "Haus der Barmherzigkeit" in Wien-Ottakring Montagmorgen. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler und Sozialminister Rudolf Anschober (beide Grüne) besuchten die allgemeine Palliativstation des Hauses und verkündeten im Anschluss vor der Presse ihre Pläne im Bereich der Pflege.

Die Heimbewohner, die gerade mit der Zeitungslektüre beschäftigt waren, zeigten sich großteils begeistert vom hohen Besuch. "Sie sind sehr fesch", beschied eine Dame dem jungen Kanzler. "Danke, da werde ich ganz rot", antwortete Kurz und erkundigte sich, ob die Damen und Herren mit der Betreuung zufrieden sind.

Kurz und Kogler zeigten Gemeinsamkeiten

Die Mitarbeiter ließen sich die Gelegenheit für ein historisches Bild natürlich auch nicht entgehen und posierten gemeinsam mit den drei Regierungsmitgliedern für Erinnerungsfotos. Kurz zeigte sich angetan von den vielen lobenden Worten der Bewohner für die Pflegekräfte und bedankte sich bei diesen für ihre Arbeit. Die Mitarbeiter wiederum wünschten sich mehr Anerkennung für ihre Leistung, mehr Personal und "natürlich auch bessere Bezahlung". Man hoffe auf eine nachhaltige Lösung der Probleme im Pflegebereich, hieß es.

Für die noch junge türkis-grüne Koalition war der Heimbesuch eine willkommene Gelegenheit, ihre Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen, nachdem in den letzten Tagen seit der Angelobung medial hauptsächlich über ihre Differenzen diskutiert wurde.

"Die Pflege ist ein gemeinsamer Schwerpunkt des Regierungsprogramms", unterstrich Kogler.

Pflege: Österreich fehlt Personal, Bedarf steigt um 75.700 Personen

Während die Zahl der pflegebedürftigen Personen in Österreich weiter steigt, rechnen Experten mit einem Rückgang von familiären Betreuungsressourcen. Daher und aufgrund der demografischen Entwicklung wird die Zahl der zusätzlich benötigten Pflegekräfte bis ins Jahr 2030 auf 75.700 Personen geschätzt. Zuletzt waren in Österreich bereits etwa 127.000 Menschen in der Pflege beschäftigt.

Die Studie der Gesundheit Österreich GmbH im Auftrag des Sozialministeriums von November 2019 wurde mit dem Titel "Pflegepersonal-Bedarfsprognose für Österreich" veröffentlicht. Sie erstellte eine Vorhersage für den gesamten Bereich der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe inklusive Sozialbetreuungsberufe mit Pflegekompetenz und der Heimhilfe im Bereich der Akut- und Langzeitbetreuung und -pflege für die Jahre 2025 und 2030.

APA

Basierend auf dem Erhebungszeitraum 2017 und unter Berücksichtigung der altersmäßigen Verteilung der Inanspruchnahme von Pflege und Betreuung in Krankenhäusern und im Bereich der Langzeitpflege wird 2030 von einem zusätzlichen Bedarf von 31.400 Personen ausgegangen. Dieser Zusatzbedarf erhöht sich dem Papier zufolge auf 34.200 Personen, wenn davon ausgegangen wird, dass informelle Pflege zurückgehen wird und in den Bundesländern als Reaktion darauf mobile Pflege und Betreuung zu Hause ausgebaut wird. Da rund ein Drittel der Pflege- und Betreuungspersonen über 50 Jahre alt ist und im Jahr 2030 nicht mehr im Erwerbsleben stehen wird, ist zudem damit zu rechnen, dass weitere 41.500 Personen in den Beruf einsteigen müssen, um den Bedarf decken zu können, schreiben die Experten in der Studie.

Österreich: 34.000 Pflegekräfte zusätzlich benötigt

Das bedeutet für Österreich einen zusätzlichen Bedarf von 34.000 Personen durch die Zunahme der älteren Menschen und einen Ausbau von Pflege und Betreuung zu Hause (rund 13.000 Personen mehr im Krankenhaus und 21.000 Personen mehr im Langzeitbereich) und eine Abdeckung von Pensionierungen von 41.500 Personen - also in Summe 75.700 Personen mehr bis 2030. Für Pflegefachkräfte entspricht das einem jährlichen Bedarf von 3.900 bis 6.700 zusätzlichen Personen. Dieser Personalbedarf könne aufgrund eines Rückgangs von Absolventen spätestens im Jahr 2024 nicht mehr gedeckt werden, befürchten die Studienautoren.

Derzeit sind in Krankenhäusern und im Bereich der Langzeitpflege und -betreuung (stationäre und teilstationäre Pflegeeinrichtungen, mobile Pflege) in Österreich rund 127.000 Personen beschäftigt. Laut der Studie sind 67.000 Personen davon im Krankenhaus beschäftigt, weitere 60.000 in der Langzeitpflege. Von den 127.000 Personen entfallen 60 Prozent auf diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal (76.000 Personen), 31 Prozent auf Pflegeassistenzkräfte (39.000 Personen) und neun Prozent auf Heimhilfen (12.000 Personen). Den Pflegekräften steht eine enorme Zahl an Pflegebedürftigen gegenüber: Im Oktober 2019 bezogen 457.895 Personen in Österreich Pflegegeld.

Pflege in 85 Prozent der Fälle von Frauen durchgeführt

In 85 Prozent der Fälle wird die Pflege von Frauen durchgeführt, bestätigt die Studie. Entsprechende Erhebungen zeigen auch, dass rund ein Drittel der Pflegekräfte über 50 Jahre alt ist und in etwa zehn Jahren in Pension gehen wird. Auf der anderen Seite wird die Anzahl der über 85-Jährigen bis 2030 um knapp 45 Prozent auf 327.000 Personen ansteigen, am stärksten wächst die Gruppe der 85-89-jährigen mit über 50 Prozent.

Gleichzeitig ist zu erwarten, dass der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung von 20 bis unter 65 Jahren bis 2030 von rund 62 Prozent der Gesamtbevölkerung auf 57 Prozent sinken wird, rechnen die Autoren der Studie vor. Auch der Anteil der unter 20-Jährigen werde leicht zurückgehen. Das bedeutet, dass der wachsenden Anzahl von pflegebedürftigen Menschen immer weniger Jugendliche für Ausbildungen und somit in Folge potenzielle Pflege- und Betreuungskräfte gegenüberstehen, schreiben die Experten. Als Gegenmaßnahmen empfehlen sie sowohl der Politik als auch Trägereinrichtungen und Ausbildungsstätten, Pflege- und Betreuungsberufe attraktiver zu machen.

NGOs sehen positive Signale, drängen auf rasche Umsetzung

Die NGOs sehen im Pflegebereich angesichts der Regierungs-Pläne positive Signale, drängen aber auf konkrete Schritte. "Ich bin zuversichtlich, aber die Dinge müssen konkret werden", sagte Caritas-Präsident Michael Landau zur APA. Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser forderte, dass die NGOs in die Zielsteuerungsgruppe eingebunden werden. Und auch die Volkshilfe drängte auf rasche Schritte.

Dass die Regierungsspitze das Thema der Pflegereform als erstes inhaltliches Thema auserkoren hat, begrüßte Landau im APA-Gespräch. Er sprach von "ermutigenden Signalen". Positiv stimmt ihn auch, dass neben der Regierungsspitze auch der neue Vorsitzende der Landeshauptleutekonferenz, Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer, erklärt hatte, das "große Thema" seines Vorsitzes werde die Pflege werden.

"Das ist eine gute Voraussetzung. Weil entscheidend ist, dass Bund, Länder, Sozialversicherungen an einem Strang ziehen und zwar in eine Richtung", so Landau. Es brauche nun ein Gesamtkonzept, mit den Hauptzielen, die pflegenden Angehörige zu entlasten sowie die pflegebedürftigen Menschen und Personen in Pflegeberufen bestmöglich zu unterstützen. Wichtig werde es sein, auch die Träger in die Gespräche einzubinden, "damit Praxiserfahrungen berücksichtigt werden können".

Moser rechnte mit Einbindung

Diakonie-Direktorin Moser unterstrich im APA-Gespräch diese Forderung nach einer Einbindung der NGOs: "Wir hoffen und gehen davon aus, dass wir als Praktiker auch in diese Zielsteuerungsgruppe einbezogen werden." Immerhin seien im Regierungsprogramm viele Ideen und Vorschläge zu finden, "die wir als Diakonie, gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen, eingebracht haben".

Die Pflegereform zum ersten Vorhaben zu erklären, stoße bei der Diakonie jedenfalls auf "absolute Zustimmung". Moser pochte - auch angesichts des geplanten "Pflege-Daheim-Bonus" - auf einen Ausbau des mobilen Angebots, denn sonst könne ein solcher Bonus nicht wirksam werden. "Ich nehme an, die Zielsteuerungsgruppe wird sich damit beschäftigen."

Etwas mehr Klarheit hätten sich die NGOs hinsichtlich des Zeitplanes gewünscht, wie Landau anmerkte. Er hoffe aber angesichts der Aussagen der Verantwortlichen, dass es gelingt, einen "Masterplan Pflege auf den Tisch zu bekommen". Moser sagte, erste Schritte sollten wirklich rasch erfolgen, damit diese auch beim kommenden Budget noch mitberücksichtigt werden können.

Finanzierung als "ein Stückchen offen" angesehen

"Ein Stückchen offen" sieht Landau die grundsätzliche Finanzierungsfrage. Es gehe aber zunächst darum, den Bedarf zu klären und erst in einem letzten Schritt die Finanzierung. Etwa skeptisch zeigte er sich zum angepeilten Versicherungsmodell: "Unsere Fachleute sehen eher eine Steuerfinanzierung."

Erfreut zeigte sich die Volkshilfe, dass Pflege und Betreuung bei der neuen Regierung "offenbar auch Chefsache sind". "Wir hoffen, dass die Regierungsspitze der Pflege nicht nur eine kurze Stippvisite abstattet, sondern auch rasch beginnt, Verbesserungen für Menschen mit Pflegebedarf, ihre Angehörigen und die Fachkräfte in diesem Bereich umzusetzen", sagte Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger in einer Aussendung.

Er verwies u.a. auf Reform-Notwendigkeiten im Personalbereich: "Um den Pflege- und Betreuungsberuf zu attraktiveren, braucht es mehr Ressourcen für die Zeit mit den KlientInnen und eine gerechte Entlohnung für diese gesellschaftlich notwendige Tätigkeit."

Opposition kritisiert Regierungsinszenierung

Die Opposition hat den heutigen Auftritt der Regierungsspitze in einem Pflegeheim als Inszenierung kritisiert. "Statt der vielen PR-Bilder aus Pflegeheimen braucht es dringend Lösungen für die Pflege", sagte der erste stellvertretende SPÖ-Klubvorsitzende Jörg Leichtfried in einer Aussendung. Er forderte, den Budgetüberschusses für die Pflege aufzuwenden.

Statt zu arbeiten, führe die ÖVP "nun mit grüner Assistenz ihre Inszenierungspolitik fort", kommentierte spitz FPÖ-Bundesparteiobmann Norbert Hofer den Auftritt von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler und Sozialminister Rudolf Anschober (beide Grüne) in einem Pflegeheim. Dieser Besuch liefere zwar nette Bilder, löse die bestehende Problematik im Pflegebereich aber nicht. Er forderte eine deutliche Erhöhung des Pflegegeldes. Die von der Regierung vorgeschlagene Pflegeversicherung lehnt die FPÖ ab.

(APA/Red)

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