Im Sommer 2020 ist nach Todesschüssen auf den tschetschenischen Videoblogger Martin B. in Gerasdorf bei Wien über politische Hintergründe diskutiert und ein Auftragsmord vermutet worden. Beim Prozess gegen den mutmaßlichen Täter Sar-Ali A., der am Freitag am Landesgericht Korneuburg stattfindet, dürften diese Aspekte indes nur eine marginale Rolle spielen. Die der APA vorliegende Anklageschrift legt nahe, dass die zuständigen Ermittler dazu nichts konkretisieren konnten.
Fall als gewöhnliches Gewaltverbrechen
Während für die Gerichtsverhandlung am Freitag außerordentliche Sicherheitsvorkehrungen angekündigt sind, scheint die Anklage den Fall eher wie ein gewöhnliches Gewaltverbrechen zu behandeln. Geladen sind lediglich zwei Zeugen, die sich unweit des Tatorts aufgehalten hatten. Beim Landesgericht (LG) Korneuburg ging man davon aus, dass Geschworene und Berufsrichter noch am Freitag ein Urteil fällen dürften.
Konkret wirft die Staatsanwaltschaft Korneuburg dem 48-jährigen Tschetschenen Sar-Ali A. vor, seinen unter dem Namen "Ansor aus Wien" bekannten Landsmann Martin B. am 4. Juli 2020 in Gerasdorf mit einer Pistole vom Typ Glock 17 ermordet zu haben. A. habe in der tschetschenischen Community als Waffenhändler gegolten, B. habe bei A. eine Glock gegen einen BMW eintauschen wollen. Ein Motiv bleibt ungenannt, von konkreten Mittätern oder Auftraggebern ist keine Rede. Ohne weitere Details wird lediglich ein Salman M. erwähnt, der abgesondert verfolgt werde und der die Tatwaffe ins Ausland gebracht habe.
LVT fragte nach
Der außerhalb von Linz ansässige Sar-Ali A. hatte selbst laut Anklageschrift gegenüber den Beamten des Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) Niederösterreich und einer zuständigen Richterin zunächst die Aussage verweigert.
Erst bei einer Einnahme durch das Landeskriminalamt Oberösterreich, das sich mit einem Vorwurf auf versuchte Schlepperei beschäftigt, stritt A. eine Beteiligung am Mord an Martin B. ab. Als er das Gelände in Gerasdorf bei Wien verlassen habe, sei B. noch am Leben gewesen, habe der Beschuldigte erklärt. Die Staatsanwaltschaft wertete diese Aussage als "reine Schutzbehauptung".
Kein Zusammenhang mit politischen Äußerungen
Wie sich A. am Freitag vor Gericht verantworten würde, ist vorerst nicht bekannt. "Ich habe von meinem Mandanten keinen Auftrag, etwas dazu zu sagen", antwortete A.s oberösterreichischer Anwalt, der namentlich nicht genannt werden wollte, der APA am Dienstag.
Obwohl die Anklageschrift kurz referiert, dass "Ansor aus Wien" in seinen Videoblogs das Regime des tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow öffentlich angeprangert habe und es aufgrund dieser Tätigkeit mehrere Morddrohungen gegen ihn gegeben habe, stellt die Anklagebehörde keinen unmittelbaren Zusammenhang der Tat und diesen Drohungen her.
Ukrainischer Geheimdienst involviert
Unerwähnt bleibt auch eine relevant erscheinende Vorgeschichte, die insbesondere mit einer ukrainischen Geheimdienstoperation zu tun hatte. Nachdem B. im Februar 2020 ukrainischen Journalisten in einem Interview offenherzig über diese Operation zur Enttarnung von Agenten Kadyrows erzählt hatte, übermittelte laut mehreren APA-Gesprächspartnern ein gewisser Schaa T. gegen B. gerichtete Drohbotschaften aus Tschetschenien nach Wien. T. gilt als Österreich-Verantwortlicher der tschetschenischen Führung - österreichische Ermittler schrieben ihm seinerzeit eine wichtige Rolle im Vorfeld der Ermordung von Umar Israilow zu. Der ehemalige Kadyrow-Leibwächter war 2009 in Wien-Floridsdorf erschossen worden.
Martin B. selbst reagierte auf diese Drohungen aus der Heimat mit Youtube-Videos, in denen er Kadyrow immer wüster beschimpfte. Er ließ die Situation damit eskalieren, verzichtete aber gleichzeitig auf Polizeischutz. B.s Bedrohungslage machte damals auch außerhalb Österreichs die Runde: Am 1. Juli 2020, drei Tage vor den Todesschüssen in Gerasdorf, ließ etwa der ukrainische Geheimdienst SBU eine Gerichtsentscheidung, in der Martin B.s Status als Zeuge in einem ukrainischen Ermittlungsverfahren erwähnt wurde, als "Maßnahme zum Schutz von Personen" aus einem öffentlichen Register löschen.
In den biografischen Angaben zum Angeklagten ist in der Anklageschrift neben Vorstrafen in der Europäischen Union davon die Rede, dass er in seiner Heimat Tschetschenien eine Haftstrafe von drei Jahren und 6 Monaten wegen versuchten Waffenschmuggels abgebüßt habe. Trotz intensiver medialer Recherchen zu A. ist davon nichts bekannt. Unerwähnt ließen die Ankläger jedoch, dass Sar-Ali A. im August 2013 in der Ukraine just wegen Waffenschmuggels zu 3 Jahren und 6 Monaten Jahren Haft verurteilt worden war. Dies bestätigte der APA im vergangenen August auch die zuständige Staatsanwaltschaft der ukrainischen Region Wolhynien.
(APA/red)