"The Boys Are Kissing" begeistern im Volkstheater

"Queeres Gegenstück" zu "Gott des Gemetzels"
Im Programmheft wird das 2019 in London uraufgeführte Stück, das hier in Wien seine deutschsprachige Erstaufführung erlebt, als "queeres Gegenstück" zu Yasmina Rezas "Gott des Gemetzels" angekündigt. Das stimmt insofern, als sich auch hier zwei Elternpaare treffen, um einen Vorfall zwischen den beiden Söhnen zu besprechen und es sich dabei nicht um einen Schlag, sondern einen Kuss handelt. Während bei Reza jedoch die Fassaden bröckeln und die Gewalt eskaliert, schickt Zarafshan seine Protagonistinnen und Protagonisten auf einen höchst verschlungenen Weg der Erkenntnis - hin zum Besseren. Und mit den Figuren der beiden Engel Analis und Klitoris zieht er eine Metaebene ein, die deutlich macht: Man kann die Menschen nicht allein lassen.
Was sich Sophie Lux für ihr Bühnenbild hat einfallen lassen, bringt das Publikum bereits zum Schmunzeln, bevor überhaupt der erste Satz gesprochen ist: Sie verwandelt die Vorderbühne in eine grüne Hüpfburg, auf der die Vorstadt-Eltern die Köpfe aus ihren kleinen aufblasbaren Plastikhäuschen recken, die in weiterer Folge praktischerweise als Sitzgelegenheiten dienen. Als Metaebene hat Lux in den blauen Bühnenhintergrund eine Empore eingelassen, auf der Nick Romeo Reimann als Analis und der Performancekünstler Luca Bonamore als Klitoris mit gerupften Flügeln ausgestattete, ihre Muskeln in Unterhemden zur Schau stellende Schutzengel ihre Mission aufnehmen (Kostüme: Moana Stemberger).
Schadensbegrenzung in der Vorstadt
Dass der Kuss eindeutig vom Sohn des lesbischen Paares ausgegangen sein muss, steht für das biedere Ehepaar Matt (Simon Bauer) und Sarah (Karoline Reinke) von Beginn an außer Frage, man will es dem anderen Paar aber nicht zeigen, um nicht in diskriminierendes Fahrwasser zu gelangen. So gilt es, die inniger werdende Freundschaft zwischen den beiden Neunjährigen, die auf der Empore ihre Kurzauftritte absolvieren, rasch und halbwegs diplomatisch wieder in Vorstadt-taugliche Bahnen zu lenken.
Wie Bauer den verstockten Ehemann gibt und seiner zugeknöpften Ehefrau keine wirkliche Stütze ist, sobald es brenzlig wird, ist hörens- wie sehenswert. Den beiden gegenüber steht Nancy Mensah-Offei als schwangere Anwältin Amira, die ihrer Ehefrau Chloe (herrlich naiv: Katharina Kurschat) implizit vorwirft, es sich in ihrem Hausfrauendasein allzu gemütlich gemacht zu haben. Heimlich schmuggelt sie queere Literatur in die Schulbibliothek und positioniert sich als schwarze, queere Frau bewusst oppositionell zu ihrem heteronormativen Umfeld.
Eltern machen es immer falsch
Aber weil die beiden Engel wissen, wohin ein Zuviel an behütendem Konservatismus respektive an betonter Wokeness im weiteren Leben der Buben führen werden, versuchen sie alles Mögliche (und Unmögliche), um die Eltern zum Umdenken zu bewegen. Da spricht Reimann als aufgeblasener Grabstein verkleidet als toter Vater mit Matt über Vaterrollen und Rollenbilder oder erscheint Bonamore als Gänseblümchen verkleidete Mutter der allzu kämpferischen lesbischen Tochter. Doch nicht mal eine Showeinlage mit zwei Sado-Maso-Polizisten mit überdimensionalen Pistolen bringt die sich immer mehr in ihre Glaubenssätze verstrickenden Elternpaare zur Raison. Da müssen die beiden Jungs schon aus der Zukunft antanzen, um den Eltern die Leviten zu lesen.
In kurzweiligen, amüsanten 100 Minuten werden die Elternfragen unserer Zeit auf bissig-ehrliche Weise durchdekliniert. Gredler hat sich bewusst weit aus dem Fenster gelehnt - und gewonnen. Bei seiner Programmpräsentation hatte Gloger geschwärmt: "Ich bin stolz, dass wir ein Ensemble haben, das Komödie auch spielen KANN." Nach dieser ersten Kostprobe darf man sagen: Ja, stimmt.
(Von Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - "The Boys Are Kissing" von Zak Zarafshan im Volkstheater, deutschsprachige Erstaufführung. Regie: Martina Gredler, Bühne: Sophie Lux, Kostüme: Moana Stemberger. Mit Simon Bauer, Karoline Reinke, Nancy Mensah-Offei, Katharina Kurschat, Nick Romeo Reimann und Luca Bonamore. Kommende Termine: 28. September, 3., 5., 11. und 16. Oktober. )
(APA)