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Take a walk on the wild side

Jan Lucas Härle (Wirt Restaurant Freigeist): "Hier haben sich ähnliche Charaktere gefunden. Das Zusammenleben funktioniert ausgezeichnet."
Jan Lucas Härle (Wirt Restaurant Freigeist): "Hier haben sich ähnliche Charaktere gefunden. Das Zusammenleben funktioniert ausgezeichnet." ©Christian Grass
Lustenau - Individuell. Der Entschluss, die Substanz des alten Stickereilokals möglichst zu bewahren, war technisch nicht ganz einfach, hat aber ganz viel Charme und Eigensinn gebracht, der von den Bewohnern noch lustvoll gesteigert wurde.
Leben & Wohnen in Lustenau

Lu s t e n a u . Überhaupt. Ein Ort, an dem sich bis heute eine kräftige Prise Eigensinn erhalten hat. Auch in der Baukultur und in der Entwicklung des Ortes. Denn Eigensinn gepaart mit Weltoffenheit und Sachverstand ergibt Individualität und die spürt man im ganzen Ort. Das wirtschaftliche Wachstum, das den Ort über Jahrzehnte beflügelt hat, brachte vor allem in den Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit eine selbstbewusste Bautätigkeit, der von seiten einer besonders liberalen Bauverwaltung wenig in den Weg gelegt wurde. Das Resultat ist ein hochinteressantes Erbe an kleinen und großen Architekturjuwelen der Moderne und ein relativ frei gewachsenes Konglomerat an alten Rheintalhäusern, elegant modernen Bürobauten, Wohnbauten aus allen Epochen und etlichen bemerkenswerten Beispielen an zeitgenössischer Vorarlberger Architektur. Nicht zu vergessen sind pionierhafte Entwicklungen (siehe Eigensinn) wie die Einführung des ersten Gestaltungsbeirat 1985 in Vorarlberg, ein prosperierender Wirtschaftspark, dessen Architektur zum Markenzeichen wurde und ein „Blauer Platz“, der dem weit verstreuten Ort eine Mitte und ein Wahrzeichen verschaffte.

Genug der Liebeserklärungen. Das Stickereiwesen hat in Lustenau über 100 Jahre Tradition und bildet sich heute noch in kleinen Fabrikationshallen ab, die über den ganzen Ort verstreut sind. Das Stickereilokal von Hämmerle und Vogel in der Teilenstraße war eines davon und hat rund 100 Jahre Geschichte. Diese Bauten entstanden unter ganz funktionalen Vorgaben, die sich heute – im Grunde zufällig – als geeignete Rahmenbedingungen für das Wohnen herausstellen. Die lange Zeit üblichen 10-Yard-Stickereimaschinen benötigten 15 m Raumtiefe und 5 m Breite. Daraus ergab sich der Raster, in dem Fenster und Stützen gestellt wurden. Weiters brauchte es zur Arbeit viel natürliches Licht und eine gewisse Raumhöhe. Dem ist die Größe der Fenster an beiden Längsseiten zu verdanken. Ein Satteldach war die einfachste Konstruktion, um eine solche Fläche zu überdecken. In der Teilenstraße waren es anfangs vier Maschinen und vier Fensterachsen, die später um zwei weitere ergänzt wurden.

Die Sticker Heinz und Markus Hämmerle und der geniale, lokale Gastronom Jan Lucas Härle waren begeistert von der Idee, aus der abgenutzten Halle mit dem ölverschmiertem Parkettboden und den Spuren von fast 100 Jahren Unrast und Lärm, von rasendem Zwirn und eiligen Händen, schwarzem Gusseisen und weißer Spitze eine Reihe von Wohnungen mit Stil zu machen.

Die Architekten Hugo Dworzak und Stephan Grabher hatten dafür sehr rasch ein Konzept, das einfach, aber radikal war. Die Halle sollte entlang der Fensterachsen geteilt werden und der Raum und die Substanz zwischen den Trennwänden sollten möglichst spürbar und in ihrer Energie erhalten bleiben. Ihr Entwurf stellte eine Box mit allen Anschlüssen für Bad und Toilette so in den Raum, dass vier Raumbereiche entstanden. Ein kleinerer Raum an der Eingangsseite und ein größerer zum Garten. Im Durchgang entlang der Box wurde die Küche vorgesehen, auch um die Installationen auf eine Wand konzentrieren zu können. Über der Box wurde eine vorgefertigte Brettstapeldecke auf massige Stahlwinkel gelegt. In gewünschter Länge, denn die Stahlwinkel waren auf die maximale Länge des Galeriegeschoßes ausgelegt, das vorerst auf Wunsch der Bewohner nur teilweise eingebaut wurde.

Was folgte, war ein hartes Stück Arbeit, denn die romantische Halle glich einem unbehauenen Stein. Es galt möglichst wenig von der Substanz abzuschlagen und doch eine Vielzahl von Maßnahmen zu setzen, die eine kalte, unbeheizte Halle in einen gemütlichen Wohnraum verwandeln würden – nach allen Regeln des Baurechts und der architektonischen Sorgfaltspflicht. Einige Entscheidungen wurden schließlich vor Ort auf der Baustelle gefällt. Gitterelemente aus der Produktion fanden als Rankgerüste zwischen den Gartenterrassen Verwendung, die ausgebauten Fensterflügel wurden als Oberlichte in die Badezimmerbox eingebaut. Der Boden wurde entfernt, ein geschliffener Betonestrich auf 24 cm Wärmedämmung eingebaut. In der bestehenden Dachkonstruktion wurden ebenfalls 24 cm Dämmung eingehängt und neu eingedeckt. Richtig schwierig wurde es bei den großen Fenstern und hier ist das gestalterisch bemerkenswerte Resultat besonders zu würdigen: Die halbe Fläche der mehrteiligen Kastenfenster mit feinen Fenstersprossen und Einfachverglasung wurde belassen, die zweite gegen großflächige Fensterelemente mit Öffnungsflügel ausgetauscht. Eine formal ansprechende und einfache Idee, deren Umsetzung aber einige Überzeugungskraft benötigte. Kastenfenster werden zwar in ihrer thermischen Qualität oft unterschätzt, aber dennoch entstand damit eine Schwachstelle in der Gebäudehülle, die dem Energieberater tiefste Sorgenfalten auf die Stirn und die geheiligte Energiekennzahl in schwierige Höhen trieb. Die beiden Bauherren sahen dies – jeder auf seine Weise – pragmatisch. Für das Bauamt war es hingegen ein trockenes „Nicht erfüllt“ hinsichtlich der Anforderungen an die Außenwand. Wäre das Haus unter Denkmalschutz gestanden, kein Problem. So blieb ein insgesamt noch vernünftiger Heizwärmebedarf und die Aussicht auf eine Ausnahmegenehmigung durch den Bürgermeister als Entscheidungsträger der Baubehörde, der dankenswerter Weise mit Augenmaß für eine gute Gesamtlösung entschied und ein Stück der Lustenauer Geschichte für die Nachwelt sichtbar gehalten hat.

Bemerkenswert ist auch das Engagement des Bauherrn, der sich bei einer ökonomischen Umbaulösung zu Mietwohnungen auf diese gestalterische Extravaganz einließ. Schließlich war es auch viel Stilgefühl der Planer, die aus einer romantischen Stickereihalle ein funktionables Wohnobjekt mit zeitgemäßem, urbanem Flair schuf. Eine so markante, aber dennoch gestaltungsoffene Hülle zu entwickeln, bedeutet auch viel weises Vertrauen der Architekten auf die Bewohner, das hier voll aufgegangen ist. Sie haben diese Qualitäten auf unterschiedliche Weise aufgenommen und mit viel Esprit und mitunter sensationellen Einrichtungsideen weitergeführt. Interessanterweise war der Makler von Anfang an überzeugt, dass es einen „Markt“ für diese Lofts gibt. Die starke Identität des Hauses scheint die passenden Bewohner förmlich angezogen zu haben, die sich in einer lebendigen Gemeinschaft ausgezeichnet verstehen. Zum Schluss noch eine Hypothese: Je allgemeiner das Gebäude und seine Bewohnerschaft, desto mehr muss in Abgrenzung investiert werden. Je spezieller und zugleich offener die Architektur, desto mehr wird ein Haus von den sozialen Kräften einer individuellen Gemeinschaft getragen. Der „walk on the wild side“ funktioniert.

Daten & Fakten

Objekt: Revitalisierung eines Stickereigebäudes
Grundstücksgröße: 1100 m²
Wohneinheiten: 6
Wohnnutzfläche: 560 m²
Planungsbeginn: 2010
Fertigstellung: 2012
Energiekennzahl: 55 kWh/m²/a
Planung: Architekturwerkstatt Hugo Dworzak (Entwurf und Ausführung: Hugo Dworzak mit Stephan Grabher)
Bauleute: Heinz und Markus Hämmerle, Lustenau
Statik: Mader/Flatz, Bregenz
Bauphysik: Bernhard Weithas, Hard
Baumeisterarbeiten und Zimmermann: Keckeis, Lustenau
Fenster: Zech, Götzis
Boden: Ebner Estriche, Lustenau
Heizung/ Installationen: M. Stotter, Lustenau
Tischler: Kubik3, Lustenau
Elektro: Stroj, Lustenau
Konstruktion: Bestehende Ziegelkonstruktion mit Holzdachtragwerk, Einbau von schalldämmenden Leichtbauwänden und Holzdeckenelementen

Leben & Wohnen – Immobilienbeilage der Vorarlberger Nachrichten

Für den Inhalt verantwortlich:
vai Vorarlberger Architektur Institut
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg, Neben Ausstellungen und Veranstaltungen bietet das vai monatlich öffentliche Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten.
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Mit freundlicher Unterstützung durch Arch+Ing

INNENANSICHT SUEDOST.
Erkundungen islamischer Glaubensräume
Ausstellung 10. 4.–29. 6. 2013
vai Vorarlberger Architekturinstitut, Marktstraße 33, Dornbirn

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