Studie zeigt: EU-Beitritt der Ukraine ist machbar

"Voraussetzung dafür ist aber der notwendige politische Wille in den EU-Hauptstädten, das in der Ukraine vorhandene Potenzial auch zu heben", so Miriam Kosmehl, Senior Expert Eastern Europe und EU Neighbourhood der Bertelsmann Stiftung. Es gibt jedoch einige bedeutende Herausforderungen für einen EU-Beitritt der Ukraine zu bewältigen. Diese umfassen den erheblichen Bevölkerungsrückgang aufgrund des Krieges, die immer noch weit verbreitete Korruption, die schwache Rechtsstaatlichkeit, die geringe Produktivität der Wirtschaft und die mangelnde Anziehungskraft für ausländische Direktinvestitionen.
Studie zu EU-Beitritt: Ukraine ökonomisch kein Sonderfall
Die EU dürfte wirtschaftlich nicht überfordert sein, wenn die Ukraine Mitglied wird. Wenn das Land heute beitreten würde, würde die Wirtschaftsleistung der Union um ein Prozent und die Bevölkerungszahl um neun Prozent steigen - ähnlich wie beim Beitritt Polens im Jahr 2004. Vor dem russischen Überfall wuchs das BIP der Ukraine zwischen 200 und 2008, 201 und 2013 sowie 2016 und 2019 schneller als das der EU.
"Das deutet darauf hin, dass die Ukraine die Fähigkeiten hat, nach Ende des Krieges ähnlich rasch aufzuholen, wie seinerzeit die neuen Mitglieder im Osten, vor allem wenn sie einen vertieften Zugang zum gemeinsamen Markt und Geld aus den Brüsseler Finanztöpfen erhält", sagte Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des wiiw und Co-Autor der Studie. "Eine glaubwürdige EU-Beitrittsperspektive, die das Land bis vor Kurzem noch nicht hatte, wird diesem wirtschaftlichen Aufholprozess sehr helfen", erklärt Grieveson. Die Wirtschaftsstruktur der Ukraine weist starke Ähnlichkeiten mit derjenigen Rumäniens vor der Aufnahme in die EU auf. Sie wird hauptsächlich von der Landwirtschaft und dem Bergbau geprägt, während die Industrie eine etwas geringere Bedeutung hat.
Ukraine vor russischem Angriff in vielen Bereichen wettbewerbsfähig
Vor dem Krieg war die makroökonomische Stabilität des Landes vergleichsweise solide, obwohl die Inflation traditionell höher war als bei anderen Beitrittskandidaten und die Währung immer wieder starkem Abwärtsdruck ausgesetzt war. Bestimmte Bereiche der ukrainischen Wirtschaft, wie der IT-Sektor, die Metallindustrie, die Rüstungsindustrie und insbesondere die Landwirtschaft, sind bereits äußerst wettbewerbsfähig und weisen ein beträchtliches Potenzial auf. "Die Ängste, dass der ukrainische Agrarsektor zum Fass ohne Boden für das EU-Budget werden könnte, sind unbegründet. Vielmehr produziert die ukrainische Landwirtschaft dank fruchtbarer Schwarzerdeböden und billiger Arbeitskräfte so effizient, dass sie eine ernsthafte Konkurrenz für viele EU-Staaten darstellt, wie der Streit um ukrainische Getreideexporte nach Polen und Ungarn zeigt", erläutert Grieveson.
Rückgang der Bevölkerung in Ukraine durch Krieg
Es gibt positive Entwicklungen, jedoch gibt es auch negative Aspekte. Besonders schwer wiegt der hohe Bevölkerungsrückgang aufgrund des Krieges, insbesondere durch geflüchtete Menschen. Eine Studie des wiiw in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass sich die Ukraine demografisch vermutlich nie vollständig von den Auswirkungen des Krieges erholen wird, unabhängig von dessen Dauer oder einer möglichen weiteren militärischen Eskalation. Im Jahr 2040 wird die Ukraine voraussichtlich rund 20 Prozent weniger Einwohner haben als vor dem Krieg (2021: 42,8 Millionen), was einer Bevölkerungszahl von etwa 35 Millionen entspricht.
Der Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung wird voraussichtlich am stärksten und mit den größten Auswirkungen sein. Das Fehlen von Arbeitskräften wird ein großes Problem für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung darstellen. "Flexible Arbeitsmodelle sind noch wichtiger geworden. Eine gemeinsame EU-Ukraine-Strategie könnte die Einführung von zirkulären Migrationsprogrammen vorantreiben und Anreize für EU-Unternehmen schaffen, Ukrainer:innen über 'virtuelle Mobilität' zu beschäftigen", erklärte Kosmehl.
Korruption bleibt trotz Fortschritten Problem in der Ukraine
Eine bedeutende Herausforderung ist die weiterhin weit verbreitete Korruption in Verbindung mit einem immer noch schwachen Rechtsstaat, obwohl in den letzten Jahren gezielte Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung ergriffen wurden. Die Ukraine weicht derzeit noch von den institutionellen Standards der ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt ihres Beitritts ab und ist vergleichbar mit Bulgarien und Rumänien, als diese in den 199er-Jahren ihre Beitrittsgesuche stellten. Um das institutionelle Niveau dieser beiden Staaten bei ihrem EU-Beitritt im Jahr 2007 zu erreichen (Rumänien und Bulgarien werden immer noch von der EU-Kommission in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit überwacht), muss die Ukraine Fortschritte bei der Bekämpfung von Korruption erzielen und insbesondere ihre ordentlichen Gerichtsbarkeiten und Strafverfolgungsorgane nachhaltig reformieren.
Die EU-Kommission hebt in ihrem aktuellen Bericht hervor, dass die Ukraine trotz des Krieges erhebliche Fortschritte in diesen Bereichen erzielt hat. "Legt man das Reformtempo früherer Beitrittsländer zugrunde, würde die Ukraine in etwa zehn Jahren institutionell für den EU-Beitritt bereit sein", präzisiert Kosmehl. "Allerdings lassen die starke ukrainische Zivilgesellschaft und die aktive Experten-Community, der in der Gesellschaft verbreitete Beitrittswille und der inzwischen proaktive Ansatz der Geberländer, etwa mittels der G7-Botschafter:innen, auf ein schnelleres Vorankommen hoffen", erklärt Kosmehl.
Direktinvestitionen in Ukraine unverzichtbar
Ein Problem, das mit der mangelnden Rechtsstaatlichkeit und der weit verbreiteten Korruption in Verbindung steht, ist die geringe Attraktivität der Ukraine für ausländische Direktinvestitionen. Kein anderer Beitrittskandidat hatte oder hat so wenige ausländische Direktinvestitionen wie die Ukraine. Dies ist jedoch auch das Ergebnis des fehlenden Beitrittsperspektive für das Land bis 2022. Die geringen Direktinvestitionen sind auch auf eine niedrige Produktivität aufgrund eines unzureichenden Berufsbildungssystems, mangelnde Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie eine äußerst schlechte Infrastruktur zurückzuführen. Hinzu kommt die prekäre Sicherheitslage, die auch nach dem Krieg anhalten dürfte.
"Ausländische Direktinvestitionen nach dem Vorbild der EU-Mitgliedstaaten in Ostmitteleuropa sind für das Land aber unverzichtbar, auch wenn die Ukraine hier eigene Wege beschreiten und vor allem die Chancen der grünen und digitalen Wende nutzen sollte", erklärt Grieveson. Eine einfache Kopie des Erfolgsmodells der Länder in Ostmitteleuropa, die als "verlängerte Werkbanken" für westliche Industriekonzerne agieren - insbesondere in der Automobilindustrie - scheint ihm nicht sinnvoll. Einerseits, weil dieses Modell zunehmend an seine Grenzen stößt, und andererseits, weil der Wettbewerbsvorteil der Ukraine in Bezug auf Lohnkosten geringer ausfällt als bei anderen ostmitteleuropäischen Ländern zum Zeitpunkt ihres EU-Beitritts. Grundsätzlich verfügt die Ukraine jedoch über ähnlich gute Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung wie die EU-Mitglieder in Ostmitteleuropa. Zu diesen gehören niedrige Löhne, eine allgemein gut ausgebildete Bevölkerung, technologisches Potenzial, eine solide industrielle Basis und die geografische Nähe zu den zentralen Industrieländern Europas.
Studie empfiehlt Maßnahmen für EU-Beitritt der Ukraine
Um den EU-Beitritt der Ukraine und ihre wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, schlagen die Autoren der Studie eine Reihe von Maßnahmen vor. Sie betonen dabei die Bedeutung glaubwürdiger militärischer Sicherheitsgarantien für das Land nach dem Kriegsende. "Nur so wird es gelingen, zumindest einen Teil der Geflüchteten zur Rückkehr zu bewegen. Gerade neue Investoren werden sich nur dann auf die Ukraine einlassen, wenn sie sich darauf verlassen können, von Angriffen verschont zu bleiben", fordert Kosmehl.
Die EU wird dazu aufgefordert, ausländischen Investoren in der Ukraine eine Versicherung gegen Kriegsrisiken anzubieten, um einen kontinuierlichen Zustrom privaten Kapitals sowohl während als auch nach Kriegsende zu gewährleisten. Zusätzlich soll Brüssel dem Land bei der Entwicklung einer maßgeschneiderten Industriepolitik helfen, um bestehende industrielle Stärken in Bereichen wie IT, Landwirtschaft, erneuerbaren Energien und im Verteidigungssektor zu fördern. Zudem wird eine Vertiefung der Handelsbeziehungen und eine Verbesserung des ukrainischen Zugangs zum EU-Binnenmarkt gefordert.
(APA/Red)