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Sorge und Trauer statt mexikanischer Fröhlichkeit

Eine Psychologin spricht über die Folgen der Influenza-Epidemie für Mexiko.

Knapp einen Monat nach Bekanntwerden des Influenza-Viruserregers H1N1 hat sich in Mexiko, dem Ursprungsland der Krankheit, die Situation stabilisiert. Bertha Blum Grynberg, Psychotherapeutin an der Psychologischen Fakultät der Universität Mexiko-Stadt UNAM, schildert im pressetext-Interview die Lage der Bevölkerung der mexikanischen Hauptstadt, die von der Epidemie und seinen Gegenmaßnahmen besonders betroffen war.

pressetext: Frau Professor Blum Grynberg, wie geht es Mexiko-Stadt heute?
Blum Grynberg: Der Stadt geht es besser. Es gibt grünes Licht, da die akute Gefährdung durch die Krankheit vorbei ist. Es ist eine große Erleichterung für alle, die gewohnten Tagesabläufe wieder herzustellen und einen gewissen Grad von Sicherheitsgefühl wieder zu erlangen. Vorsichtig sind die Menschen allerdings weiterhin und halten bestimmte Verhaltensweisen wie etwa die Hygienebestimmungen ein.

pressetext: Wie verlief das Leben in Mexiko-Stadt während der Epidemie?
Blum Grynberg: Alles verlief anders als gewohnt, denn für zwei Wochen mussten in Mexiko-Stadt alle Freizeitveranstaltungen sowie der Gastronomie- und Kulturbetrieb eingestellt werden. Um die Ansteckungsgefahr zu verringern, pausierten auch Schulen und Universitäten für zwei Wochen, um die das Sommersemester verlängert wird. Konkret bedeutete das eine erzwungene Isolierung vieler Menschen, da sie ihr Haus kaum mehr verließen. Soziale Netze lösten sich für mehrere Wochen auf, während Jugendliche diese gelegentlich auf das Internet verlagerten. Stärker als gewohnt stellten Aktivitäten in der Familie, Spiele, Unterhaltungen und das Fernsehen im Mittelpunkt der Tagesgestaltung. Viele Studenten nutzten die Zeit, um an ihren Seminar- und Abschlussarbeiten weiter zu schreiben.

pressetext: Veränderte die Krankheit den gegenseitigen Umgang in der Gesellschaft?
Blum Grynberg: Ich sehe sowohl bedenkliche Verhaltensweisen, die sich noch immer nicht eingestellt haben, als auch positive. Negativ ist das gegenseitige Misstrauen, das in übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen zum Ausdruck kommt. Wenn jemand auf der Straße niest, entgegnete man früher ganz automatisch “Gesundheit”. Heute löst es noch immer Beunruhigung aus, die Leute der direkten Umgebung weichen zurück und das “Gesundheit” kommt, wenn überhaupt, erst viel später. Der Niesende fühlt sich in Verlegenheit und entschuldigt sich. Positiv ist jedoch, dass das regelmäßige Händewaschen zur Gewohnheit geworden ist. Vielen wird erst jetzt bewusst, dass fehlende Hygiene zahlreiche Krankheiten oder auch Verdauungsprobleme auslösen kann. Allerdings betreiben manche die Reinigung übertrieben häufig und in pathologischer Form, ganz als wollten sie damit ihre Ängste abwaschen.

pressetext: Hat die Krankheit auch psychologische Folgen?
Blum Grynberg: Ja, ganz sicher hat die Epidemie in der Psyche vieler Mexikaner Spuren hinterlassen. Viele sind verängstigt, die Sorge um Ansteckungen geht noch immer die Runde, manche trauen sich noch immer nicht auf die Straße. Besonders der Verlust der Arbeit hat viele deprimiert und den Selbstwert gesenkt. Mexiko ist von der Wirtschaftskrise ohnehin schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Grippe war wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Von vielen Menschen habe ich die Aussage gehört, sie seien nicht mehr sie selbst. Die mexikanische Fröhlichkeit hat im Moment der Sorge und Trauer Platz gemacht.

pressetext: Welche Branchen sind am stärksten betroffen?
Blum Grynberg: Nachhaltig geschädigt ist erstmals der Tourismus Mexikos, ein Problem das durchaus Ausmaße einer weiteren Epidemie annahm. Viele Menschen verloren ihren Job. Am meisten betroffen sind die kleinen Restaurants, die zwei Wochen völlig außer Betrieb waren. Viele blieben aufgrund der finanziellen Verluste auch danach geschlossen und setzten unzählige Köche und Kellner arbeitslos auf die Straße. Ganz besonders hat die Grippe jedoch der Schweineindustrie zugesetzt und sie zum Erliegen gebracht. Mexiko konsumierte kein Schweinefleisch mehr und auch andere Länder wie etwa China verboten den Import von Schweinefleisch aus Mexiko. Erst viel zu spät, als die “Schweinegrippe” in aller Munde war, wurde die Krankheit auf “Neue Grippe” umbenannt. Jetzt verbreitet die Regierung mit großem Aufwand die Botschaft, dass der Verzehr von Schweinefleisch gesund ist und kein Risiko einer Ansteckung darstellt.

pressetext: Leiden alle sozialen Schichten des Landes an den Folgen der Krankheit?
Blum Grynberg: Es gibt in Mexiko große soziale Ungleichheiten und dementsprechend verschieden waren auch die Auswirkungen der Grippe. Während Angehörige der Mittelschicht gezwungen waren, ihre beruflichen Projekte zurückzustellen, waren die Armen weitaus stärker von Arbeitslosigkeit oder Entlassungen betroffen. Wenn Kellner oder Taxifahrer plötzlich keinen Verdienst mehr haben, ist das für ganze Familienverbände eine Bedrohung, da viele in den Tag leben und keinerlei Ersparnisse haben. Viele sind verärgert, ihr Ärger richtet sich gegen die Welt, die Mexikaner diskriminiert, gegen das persönliche Schicksal, jedoch auch gegen die Regierung.

pressetext: Wie beurteilen die Menschen den Umgang der Behörden mit der Krankheit?
Blum Grynberg: Das Vertrauen in die Autoritäten, das schon allgemein eher gering ist, wurde in diesen Wochen weiter erschüttert. Schuld daran ist meiner Meinung nach die große Unsicherheit, zu der sehr widersprüchliche Meldungen und Anweisungen beigetragen haben. Oft war zu hören, dass man nicht genau weiß, ob eine Grippe harmlos oder vom Typ H1N1 ist. Das führte zu zahlreichen Gerüchten. Manche sagten etwa, die Grippe existiere gar nicht und sei bloß eine Erfindung. Andere glauben zu wissen, dass sie schon seit langem bekannt gewesen sei, dass man jedoch mit der Aufdeckung bis nach Präsident Obamas Mexikobesuch warten hatte wollen. Die Regierung versucht zu beruhigen und betont, dass die neuen Ansteckungen zurückgehen und keine Todesfälle mehr berichtet werden. Wirtschaftlich werde sich das Land laut den Behörden jedoch frühestens im nächsten Jahr von diesem Schock erholen. Das ist eine lange Zeit, besonders für Jugendliche ohne Arbeit.

pressetext: Wie kann die Krise überwunden werden?
Blum Grynberg: Einerseits heilt die Zeit viele Wunden, besonders was die Umgangsformen und Ängste betrifft. Deshalb ist es für das Vertrauen und die Hoffnung der Menschen wichtig, eine längere Zeit ohne dieser Krankheit zu erleben. Andererseits kann eine stärkere persönliche Organisation den Menschen dabei helfen. Die Psychologen sind im Dauereinsatz – wenn es auch nur wenige Zentren gibt, die ihren Service kostenlos anbieten.

pressetext: Danke für das Interview.

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