Martina Salomon, Chefredakteurin der Tageszeitung „Kurier“, schafft es immer wieder, zu provozieren. Diese Woche etwa in einem Leitartikel, in dem sie feststellte, dass wir nicht so arm seien: „Das heimische Wohlstandsniveau ist viel höher, als die allgemeine Stimmung vermuten lässt.“ Mehr hat Salomon nicht gebraucht. Die Empörung war groß. Wiens Ex-Grünen-Chefin Birgit Hebein warf Salomon und ihresgleichen vor, den Anblick von Armut nicht zu ertragen. Kanzlersprecher Daniel Kosak fand hingegen, dass der Leitartikel lesenswert sei.
Im Text ist Salomon ein Fehler unterlaufen (nicht 95, sondern eher rund 50 Prozent sämtlicher Antiteuerungshilfen gingen bisher an die untere Einkommenshälfte); und sie bedient das Klischee, wonach Arbeitslose keinen Bock auf einen Job haben (was es gibt, aber nicht die Regel ist). Man sollte sich davon aber nicht abhalten lassen, ihre Einladung anzunehmen, darüber nachzudenken, wie schlecht es „uns“ wirklich geht.
Ergebnis: Fast allen geht es besser als der Groß- oder Urgroßelterngeneration, die oft schon froh sein musste, auch gegen Monatsende alle Familienmitglieder ernähren zu können. Ja, einer Masse geht es heute noch immer sehr gut. Das gilt jedoch nicht für alle. Laut einer aktuellen Statistik Austria-Erhebung zu Krisenfolgen können sich – bei steigender Tendenz – schon knapp zehn Prozent nicht einmal mehr jeden zweiten Tag eine Hauptmahlzeit für alle Familienmitglieder leisten. Sie sind sie egal? Nein!
Schlimmer: Für mehr und mehr Menschen werden Dinge unmöglich, die beim „heimischen Wohlstandsniveau“ normal sein sollten. Für rund 30 Prozent ist ein einwöchiger Urlaub pro Jahr nicht mehr drinnen. Ähnlich viele können unerwartete Ausgaben von 1300 Euro nicht aus dem laufenden Einkommen oder aus Ersparnissen bewältigen; diese reichen schlicht und ergreifend nicht aus.
Das Problem bei dem Ganzen ist, dass de facto zwar alle noch immer mehr haben als ihre Groß- oder Urgroßelterngeneration, dass aber ein schleichender Prozess im Gange ist, den man ernstnehmen sollte: Für immer mehr Menschen geht das verloren, was Soziologen als gesellschaftliche Teilhabe bezeichnen. Sie bleiben zurück, weil Nachhilfe, Bildungs- und viele Freizeitprogramme zu teuer geworden sind für ihre Kinder. Weil die Alternative zu keinem Kassenarzt für sie nicht Wahl-, sondern kein Arzt bedeutet. Weil sie froh sein müssen, die monatliche Miete bezahlen zu können und nie im Leben ein Vermögen bilden können. Weil sie das Pech haben, nicht geerbt zu haben. Weil sie verhängnisvollerweise erkennen müssen, dass sich Leistung nur noch bedingt lohnt für sie. Das ist eine Katastrophe.
Das Problem ist, dass es in den vergangenen Jahrzehnten meist immer nur aufwärts gegangen ist und dass es jetzt für viele abwärts zu gehen scheint. Das macht etwas mit den Leuten. Es frustriert sie, treibt sie Populisten in die Hände, die Übles im Schilde führen.
Diesen Leuten zu sagen, dass sie sich zusammenreißen und froh sein sollten, dass sie nicht nichts haben, wäre zynisch. Notwendig ist es, darüber nachzudenken, wie man weitere Wohlstandsverluste für einen wachsenden Teil der Gesellschaft stoppen könnte. Wie man den Glauben an eine Chancengleichheit wieder herstellen könnte – zumal eine Gesellschaft insgesamt auf Dauer gesehen nur so reich ist, wie die unteren zehn, 20 oder maximal 30 Prozent. Grund: Sind so viele Menschen Verlierer oder haben so viele das Gefühl, ebensolche zu sein, gibt es über kurz oder lang keine Sicherheit und aufgrund entsprechender Wahlergebnisse auch keine halbwegs gemäßigte Regierung mehr. Dann wird’s gefährlich.
Johannes Huber betreibt den Blog dieSubstanz.at – Analysen und Hintergründe zur Politik