AA

"Sie bleibt meine Tochter!"

©dpa/Symbolbild
Manuelas Tochter Pia war alkoholabhängig – und genau wie ihr Kind wäre auch die Mutter beinahe daran zerbrochen.

Von Anja Förtsch (Wann&Wo)

Jetzt auf VOL.AT lesen

Manuela weiß genau, was das Gefühl, das langsam von ihrem Bauch in ihre Brust hinaufsteigt, bedeutet. Ein Kribbeln, das zum Brennen wird, das sich ausbreitet und schließlich die Kehle zuschnürt. Eine Panikattacke. Schon wieder. Doch diesmal vergeht sie nicht – sie wird nur stärker, heftiger. Manuela wird mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Der Auslöser ihrer unglaublichen Angst ist Alkohol. Aber nicht sie selbst ist süchtig – sondern ihre Tochter Pia. Manuela ist co-abhängig.

Die Tochter wird aggressiv

Manuela möchte ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen, aus Angst, dass ihre Tochter davon getriggert und rückfällig werden könnte. Ihre Geschichte will sie dennoch erzählen, um anderen Betroffenen zu helfen. Und die beginnt vor Jahren: „Ich werde den Moment nie vergessen können. Ein Ex-Freund von ihr erzählte mir, dass Pias Alkoholkonsum weitab des Normalen liegt. Ich konnte es erst gar nicht glauben“, erzählt die Bludenzerin. Gelegenheiten, ihre Sucht zu verstecken, hatte Pia genug: Sie war schon seit Langem zum Studieren nach Innsbruck gezogen. Den Alltag ihrer Tochter kannte Manuela nur noch aus deren Erzählungen – und eben nur das, was sie auch wirklich erzählte. „Pia ist das jüngste von vier Kindern. Als sie im Teenager-Alter war, starb ihr Vater. Meine Tochter war ein absolutes Papa-Kind, sie hing sehr an ihm. Dennoch schien sie damals sehr stark zu sein. Genau das scheint sie aber letztlich überfordert zu haben, sodass sie sich in den Alkohol flüchtete.“ Manuela handelt aus einem Impuls heraus – und konfrontiert ihre Tochter mit deren Sucht. Wie es für Süchtige typisch ist, streitet die jedoch alles ab. Schlimmer noch: „Sie wurde aggressiv und regelrecht unberechenbar. Also wurde ich vorsichtiger. Ich hatte schließlich das Gefühl, dass ich sie durch zu viel Nachbohren ganz verlieren würde.“

Beim Abstieg zuschauen

Jahrelang muss Manuela also zusehen, wie ihre Tochter abrutscht, wie zum Alkohol auch noch Tabletten gegen Depressionen hinzukommen – und wie sie schließlich ihren Job verliert. „Ohne Einkommen musste sie wieder zu mir ziehen“, erklärt sie. „Ich war zuerst glücklich darüber. Ich dachte, wenn ich Pia bei mir habe, habe ich sie unter Kontrolle und kann ihr aus der Sucht heraushelfen.“

Die Mutter stürzt sich völlig in diese vermeintliche Aufgabe, richtet ihr ganzes Leben darauf aus, ihrer Tochter zu helfen. „Mir wurde des Öfteren geraten, sie auf die Straße zu stellen. Das habe ich aber nicht geschafft. Und trotz ihrer Sucht haben wir eine sehr enge Bindung.“ Verständlich – aber auch ein Fehler, den viele Angehörige machen, wie Monika Chromy weiß. Sie leitet den Fachbereich Sucht bei der Caritas Vorarlberg. „Co-Abhängige richten ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Suchtkranken. Dadurch vernachlässigen sie die eigene Lebensplanung und unterliegen einem enormen Leidensdruck, der nicht selten in einer psychischen oder gar somatischen Erkrankung endet.“ So auch bei Manuela: Die Sorge um Pia lösten ihre Panikattacken aus, die brachten sie schließlich ins Krankenhaus. Und zu insgesamt drei psychologischen Beratungsstellen, zuletzt zur Caritas. „Beim ersten Beratungsgespräch in der Suchtfachstelle habe ich endlich weinen und meine Trauer rauslassen können. Ein offenes Ohr, ein fachkundiger Rat, ein Reflektieren meiner Situation: Das hat unheimlich geholfen.“ Mittlerweile hat ihre Tochter ihre Alkoholsucht überwunden – und Manuela ihre Panikattacken. „Ich bin in den vielen Jahren durch die Hölle gegangen. Die Hölle auf Erden.“ Wut empfinde sie gegenüber ihrer Tochter dennoch keine. „Egal, was Pia auch immer getan hat, welche Entscheidungen sie getroffen hat: Sie bleibt meine Tochter!“

Jeder Zehnte hat enge Verwandte mit Suchtproblemen

Von Suchterkrankungen im Verwandtenkreis sind mehr Menschen betroffen, als landläufig angenom-men wird: „Jede und jeder Zehnte von uns hat engere Verwandte mit einer Suchtproblematik“, erläu-tert Monika Chromy, Fachbereichsleiterin Suchtarbeit der Caritas Vorarlberg. Sogar jeder sechste Klient, der im vergangenen Jahr bei der Caritas Vorarlberg Hilfe suchte, sei nicht selbst süchtig, sondern Ange-höriger gewesen. Frauen seien dabei mit 84 Prozent deutlich häufiger betroffen als Männer.

Ratschläge für Angehörige und Freunde

Zurückhaltung
„Nahestehende geraten schnell in die Gefahr, die Verantwortung zu übernehmen und die Süch-tigen vermeintlich zu entlasten“, sagt Monika Chromy von der Caritas. „Unbeabsichtigt tragen die Co-Abhängigen damit aber zur Aufrechterhaltung einer Sucht bei.“

Darüber reden
„Bereits ein Gespräch bringt oft große Entlastung“, so Chromy. „Darüber hinaus können sie sich ihrer eigenen Muster, welche mitunter indirekt das Sucht-verhalten aufrecht erhalten, bewusst werden und neue Kom-munikationsformen üben. Und die Angehörigen werden selbst in den Mittelpunkt gestellt, eine Situation, die sie oft gar nicht mehr kennen.“

Hilfe suchen
„Angehörige sollten nicht meinen, sie müssten alles mit sich ausmachen. Sie sollten sich auch nicht aus Scham ver-stecken und resignieren“, ruft Chromy auf. Alle Suchtfach-stellen der Caritas unter:www.caritas-vorarlberg.at

>>Hier die ganze WANN & WO-Ausgabe online lesen<<

  • VIENNA.AT
  • Wann & Wo
  • "Sie bleibt meine Tochter!"