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"Psychische Krisen werden zunehmen"

©Pixabay/Handout
Im Talk spricht Jugendpsychiaterin Dr. Maria-Katharina Veraar über die Auswirkungen durch die Pandemie auf ihren Arbeitsalltag, starke ­psychische Belastungen für Kinder und Jugendliche und ihre Erwartungen für das neue Schuljahr.    

WANN & WO: Dr. Veraar: Die Corona­pandemie beschäftigt uns bereits seit anderthalb Jahren. ­Welche Auswirkungen hatte die ­Pandemie auf Ihren Arbeitsalltag?

Dr. Maria-Katharina Veraar: In Folge der dramatischen Bilder aus Italien im vergangenen Februar wurden in jeglichen medizinischen Bereichen alle und alles aktiviert, um hierzulande das Bedrohungsszenario abzuwehren. In der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden die Tageskliniken geschlossen, um Personal für mögliche pandemiebedingte Versorgungsengpässe bereitzuhalten und vorzubereiten. Der vollstationäre Bereich sowie die Akut-, Kinder- und Jugendstationen, die Notfallambulanz und die Bestellambulanz konnten aber offen bleiben.

WANN & WO: Wie hat sich die ­Situation auf Ihrer Station geändert? Und wie gingen die jungen Patienten mit den neuen Begebenheiten um?

Dr. Maria-Katharina Veraar: Die mit sofortiger Wirkung eingeführte Maskenpflicht für Kinder- und Jugendliche, die Abstandsregel, eingeschränkte Besuchsmöglichkeiten bzw. Besuchs- und Ausgangsverbote, wurden von unseren Patient­Innen, je nach Alter, ganz unterschiedlich toleriert. Die Unsicherheit und die damit verbundene Angst über die unmittelbaren gesundheitlichen Folgen für Großeltern aber auch für die Eltern war deutlich spürbar.

WANN & WO: Gab es zu jener Zeit bereits Prognosen, wie sich das Pandemiegeschehen auf Kinder und Jugendliche noch auswirken wird?

Dr. Maria-Katharina Veraar: Ja. Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ÖGKJP)  warnte bereits früh vor den Folgen für Kinder und Jugendliche im Sinne einer möglichen Zunahme psychischer und psychosozialer Beeinträchtigungen durch den Umgang mit der Krise: Verlust des Schulbesuchs, den damit verbunden Verlust der Tagesstruktur, der fehlenden Kontakte zu den Gleichaltrigen und natürlich die generellen Einschränkungen des alltäglichen Lebens.

WANN & WO: Im Sommer schien sich die Situation wieder zu entspannen – dann kam der Herbst. Wie gestaltete sich die Lage zu diesem Zeitpunkt?

Dr. Maria-Katharina Veraar: Im quasi pandemiefreien Sommer kehrte die Inanspruchnahme der ambulanten Versorgung langsam auf das Niveau vor der Pandemie zurück: Die Tageskliniken wurden wieder geöffnet und erreichten gemeinsam mit der Kinderstation eine Vollbelegung. Im 3. und 4. Quartal des Jahres nahm dann sowohl die ambulante Inanspruchnahme, als auch die Zahl der ­stationären Aufnahmen wieder um mindestens 20 Prozent zu.

WANN & WO: Was waren die Haupt­ursachen für diesen Anstieg?

Dr. Maria-Katharina Veraar: Die akuten Fälle nahmen als Folge der Mehrfachbelastung mit Online- und Wechselunterricht, Ausgangssperren und fehlenden sozialen Kontakten, eingeschränkten Bewegungsräumen, Strukturverlust, für viele bis hin zur Tag/Nacht-Umkehr, deutlich zu. Kinder und Jugendliche, die bisher unauffällig waren, zeigten plötzlich ganz unterschiedliche Symptome. Betroffen sind alle Altersgruppen und Schichten.

WANN & WO: Können Sie dazu Zahlen nennen?

Dr. Maria-Katharina Veraar: Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit einer geminderten Lebensqualität ist stark gestiegen, nämlich von drei von zehn Kindern auf sieben von zehn. Zusätzlich hat sich das Risiko für psychische Auffälligkeiten deutlich erhöht. Vor der Corona-Krise waren davon zwei von zehn Kindern betroffen, im Rahmen der zweiten Befragung im Jänner dieses Jahres waren es bereits drei von zehn Kindern. Einer bundesweiten Studie (MHAT – Mental Health in Austrian Teenagers) der MedUni Wien und dem Ludwig Boltzmann Institut zufolge, erfüllte rund ein Drittel der österreichischen Jugendlichen die Kriterien für zumindest eine psychische Erkrankung. Eine hohe Zahl, die bereits vor der Pandemie erhoben wurde.

WANN & WO: Welchen Schluss ­ziehen Sie daraus?

Dr. Maria-Katharina Veraar: Die Studie zeigt, dass bundesweit – auch in Vorarlberg – größte Anstrengungen unternommen werden sollten, eine adäquate Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen bzw. psychosozialen Erkrankungen und Problemstellungen zu gewährleisten.

WANN & WO: Vor wenigen Tagen ist das neue Schuljahr gestartet. Wie schätzen Sie die nächsten Wochen und Monate ein?

Dr. Maria-Katharina Veraar: Die psychischen Krisen im Zusammenhang mit schulbezogener Überforderung werden weiter zunehmen. Viele Kinder und Jugendliche konnten bereits unter den Bedingungen des letzten Schuljahres den geforderten Stoff inhaltlich nicht ausreichend bewältigen, um ohne Überforderung und damit verbundene psychische Belastung in das aktuelle Schuljahr einsteigen zu können.

Kurz gefragt

Wie stehen Sie zur Impfung für ­Kinder und Jugendliche?
Diese Impfdebatte überlasse ich den Kinderärzten.

Was halten Sie von Begriffen wie „Generation Corona“?
Derart plakative Statements sind absolut kontraproduktiv und widersprechen dem Auftrag der Erwachsenengeneration, die Kinder und Jugendlichen trotz schwierigen und herausfordernden Bedingungen maximal zu unterstützen und zukunftsorientiert optimistisch zu begleiten.

Welchen Rat haben Sie für Eltern?
Eltern sollen keinesfalls zögern, die Anlaufstellen im Land zu kontaktieren, wenn sie sich um die psychische Befindlichkeit ihres Nachwuchses Sorgen machen. (Anm. d. Red.: Bspw. pro mente Vorarlberg www.promente-v.at oder aks Vorarlberg www.aks.or.at)

Zur Person: Dr. Maria-Katharina Veraar

Alter, Wohnort, Familienstand: geb. 1963 in Wien; Bregenz; verheiratet, zwei Kinder

Ausbildung/Funktion: Fachärztin Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie, ab 2003 ärztliche Leitung Primariat der Erwachsenenpsychiatrie (kinder- und jugendpsychiatrische Station eingegliedert), seit 2014 Leiterin der neuen Kinder- und Jugendpsychiatrie im LKH Rankweil

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