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PFOS-Skandal: Wie ein Konzern Gift in den Bodensee leitete

Umweltskandal am Bodensee.
Umweltskandal am Bodensee. ©P. Steurer
PFOS-Skandal: Giftiger Löschschaum gelangte vom Amcor-Werksgelände in den Bodensee – und damit in Europas größten Trinkwasserspeicher. Recherchen zeigen: Auch das Rhein-System ist betroffen.

Ende 2020 und Anfang 2021 kommt es auf dem Areal des Verpackungskonzerns Amcor Flexibles AG in Goldach (Kanton St. Gallen) zu zwei gravierenden Umweltzwischenfällen. Insgesamt 910 Kilogramm Löschschaum, belastet mit PFOS, einem seit 2011 in der Schweiz verbotenen Stoff, gelangen über die Goldach in den Bodensee – Europas größten Trinkwasserspeicher. Wie das St. Galler Tagblatt berichtet, zeigen nun veröffentlichte Strafakten massive Versäumnisse – und dokumentieren den Versuch des Konzerns, die Vorfälle zu verharmlosen.

PFAS/PFOS Infobox

Was sind PFAS und PFOS? – Eine Einordnung

✅ PFAS (per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen)
Oberbegriff für mehr als 10.000 künstlich hergestellte Chemikalien, die extrem stabil, langlebig und umweltschädlich sind. Wegen ihrer wasser-, schmutz- und fettabweisenden Eigenschaften werden PFAS weltweit in Produkten wie Outdoorjacken, Teflonpfannen, Zahnseide oder Pizzakartons verwendet. Aufgrund ihrer Persistenz gelten sie als sogenannte „Ewigkeitschemikalien“.

✅ PFOS (Perfluoroctansulfonat)
Ein besonders problematischer Einzelstoff innerhalb der PFAS-Gruppe. PFOS ist gesundheitsgefährdend, reichert sich in der Nahrungskette an und ist in der Schweiz seit 2011 in Löschmitteln verboten. Genau dieser Stoff war im Löschschaum enthalten, der beim Amcor-Vorfall in den Bodensee gelangte.

Erster Vorfall: Austritt von 2,7 Tonnen Löschschaum

Der erste Unfall ereignet sich am 29. Dezember 2020: Beim Umschalten auf ein Notstromsystem fällt der Druck in der Löschanlage ab. Die Folge: 2,7 Tonnen Schaum werden unkontrolliert freigesetzt. Etwa 850 Kilogramm davon fließen aufgrund eines defekten Schiebers in die Meteorleitung und direkt in die Goldach. Eine Alarmierung der Polizei oder des Umweltdiensts erfolgt nicht. Stattdessen wird der Vorfall durch Werkhofmitarbeiter intern bereinigt.

Zwei Wochen später, am 13. Januar 2021, wiederholt sich das Szenario. Aufgrund gefrorener Schaumdüsen löst die Anlage erneut aus. Diesmal fließen weitere 60 Kilogramm PFOS-belasteter Schaum in die Umwelt – unbeobachtet, bis ein Fischereiaufseher die Substanz entdeckt und Meldung erstattet.

PFOS trotz Verbot weiterhin im Einsatz

Wie aus den vom St. Galler Tagblatt erstrittenen Untersuchungsakten hervorgeht, hatte Amcor bereits 2019 intern über den Austausch des Schaums diskutiert. Ein Mitarbeiter stellte in einer E-Mail die Notwendigkeit eines Ersatzes infrage – obwohl PFOS-haltige Mittel seit acht Jahren verboten waren. Der Kanton St. Gallen erteilte daraufhin eine Fristverlängerung, dezidiert eine Absage. Dennoch wurde der Schaum weiterhin eingesetzt – bis zu den beiden Unfällen.

Späte Reaktion der Behörden

Die St. Galler Staatsanwaltschaft verurteilte Amcor im Februar 2022 zu einer Geldstrafe von 5000 Franken wegen Verstössen gegen das Gewässer- und Umweltschutzgesetz. Zudem musste das Unternehmen 28.260 Franken für eingesparte Entsorgungskosten bezahlen. Auf ein Verfahren gegen Einzelpersonen wurde verzichtet – eine Entscheidung, die auf breite Kritik stieß.

Erst 2022, über ein Jahr nach den Unfällen, wurde das Trinkwasser untersucht. Zwar lagen die PFOS-Werte unterhalb der Grenzwerte, vier von neun Hechtproben aus dem See überschritten diese jedoch deutlich. Eine toxikologische Bewertung der Auswirkungen auf Pflanzen, Kleintiere oder Mikroorganismen wurde nicht durchgeführt.

PFAS in Vorarlberg – Regionale Belastung

Wie stark ist Vorarlberg betroffen?
In knapp 80 % der Bodenproben wurden PFAS nachgewiesen – die höchsten Werte österreichweit.

Trinkwasser ebenfalls belastet?
Ja. In rund 40 % der Proben zwischen 2021 und 2023 wurden PFAS gefunden, jedoch unter dem geltenden EU-Grenzwert.

Was sagt die Wissenschaft?
Langfristiger Kontakt kann gesundheitsschädlich sein. Die Entfernung aus Böden ist technisch sehr aufwendig.

Stand der Daten/Quelle:
Umweltinstitut Vorarlberg (2024), ORF

Bundesgericht gibt dem Tagblatt recht

Das St. Galler Tagblatt verlangte im April 2022 Einsicht in die Untersuchungsakten. Amcor bekämpfte das Gesuch – und verlor zweimal vor Bundesgericht. Die Richter in Lausanne bekräftigten das überwiegende öffentliche Interesse an Transparenz im Umgang mit Umweltverstößen.

Die Akten belegen, dass Amcor nicht nur den Einsatz verbotener Stoffe verschwieg, sondern auch systematisch versuchte, die Tragweite der Unfälle herunterzuspielen. In einem ersten Entwurf für den Störfallbericht wurde der Schaden auf null beziffert. Erst nach mehrfacher Rückweisung durch den Kanton wurde das Ausmaß ansatzweise anerkannt – in Form einer Fußnote.

Amcor – Konzernprofil

Unternehmensform:
Aktiengesellschaft (ISIN: AU000000AMC4)

Gründung:
1860 (als Australian Paper Manufacturers), Umbenennung in Amcor 1986

Hauptsitze:
Southbank (Melbourne, Australien) und Zürich (Schweiz)

Mitarbeiterzahl:
rund 41.000 weltweit (Stand: 2024)

Jahresumsatz:
13,64 Milliarden US-Dollar (2023/24)

Geschäftsfelder:
Herstellung von flexiblen und starren Verpackungen, Spezialkartons und Verschlüssen – insbesondere für die Lebensmittel-, Pharma-, Körperpflege- und Haushaltsindustrie

Internationale Präsenz:
212 Standorte in 40 Ländern

Börsennotierung:
Australian Securities Exchange (ASX: AMC)

Nachhaltigkeit:
Mitglied u. a. im Dow Jones Sustainability Index, FTSE4Good, Partner der Ellen MacArthur Foundation (Ziel: 100 % wiederverwertbare Verpackungen bis 2025)

Weblinks:
Offizielle Website
Wikipedia-Eintrag zu Amcor

Wiederholte Zwischenfälle – trotz Investitionen

Nach den Vorfällen investierte Amcor laut eigenen Angaben über drei Millionen Franken in die Sicherheit am Standort. Dazu zählen eine neue Löschanlage, ein automatisiertes Notfall-Ablasssystem und ein kontinuierliches Wasserkontrollsystem. Dennoch kam es im Juli 2021 zu einem weiteren Austritt – dieses Mal von PFOS-freiem Schaum. Und im April 2024 lief bei einem Ladeunfall ein Fass mit Lack aus – erneut gelangte die Substanz über eine defekte Leitung in die Goldach. Laut 20 Minuten wurde auch in diesem Fall zunächst nicht die Polizei informiert, sondern erst durch eine Drittperson alarmiert.

PFOS auch in der Thur und im Rhein entdeckt

Wie das St. Galler Tagblatt im zweiten Teil seiner Recherche berichtet, beschränkt sich die Umweltbelastung durch Amcor nicht nur auf den Bodensee. Aus den Akten geht hervor: Auch die Thur und der Rhein sind betroffen.

Demnach wurden nach den Unfällen rund 120 Kubikmeter PFOS-belastetes Löschwasser per Tanklastwagen in die nahegelegene Kläranlage Altenrhein transportiert. Dort wurde es zwar behandelt, aber nicht thermisch entsorgt, obwohl PFOS nicht herausgefiltert werden kann. Stattdessen wurde das Wasser in die Thur eingeleitet, die wiederum in den Rhein mündet – einen der wichtigsten Trinkwasserflüsse Europas.

Dieser zweite Eintragspfad war bislang nicht bekannt und unterstreicht die grenzüberschreitende Dimension des Umweltskandals. Die Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) sowie Umweltorganisationen wie Greenpeace warnten bereits vor überhöhten PFOS-Konzentrationen in beiden Flüssen.

Konzernkommunikation in der Defensive

Amcor wies Vorwürfe zurück, die Unfälle seien vorsätzlich verursacht worden. Die Sprecherin erklärte gegenüber CH Media: "Die Unfälle waren auf Fehler in den Prozessen zurückzuführen." Man bedaure die Freisetzung von 7,2 Kilogramm PFOS ausdrücklich.

©Amcor.com

Amcor, 1860 als Australian Paper Manufacturers gegründet, ist heute ein globaler Riese mit 41.000 Mitarbeitern und 212 Standorten in 40 Ländern. Der Konzern wirbt mit Nachhaltigkeit, ist Mitglied im Dow Jones Sustainability Index und Partner der Ellen MacArthur Foundation. Doch die Vorfälle in Goldach werfen Schatten auf dieses Image.

Die Kommunikation bleibt defensiv. Amcor betont seine „regionale Verwurzelung“ und „verschärfte Protokolle“. Doch die juristischen Kämpfe gegen Medien und die spärlichen Zugeständnisse nähren Misstrauen. Ob die Behörden in Vorarlberg, am anderen Ufer des Bodensees, informiert wurden, bleibt unklar.

PFAS in Vorarlberg – Regionale Belastung

Was sind PFAS?
Sogenannte „Ewigkeitschemikalien“, die nicht abbaubar sind und sich in Umwelt und Körper anreichern.

Wie stark ist Vorarlberg betroffen?
In knapp 80 % der Bodenproben wurden PFAS nachgewiesen – die höchsten Werte österreichweit.

Trinkwasser ebenfalls belastet?
Ja. In rund 40 % der Proben zwischen 2021 und 2023 wurden PFAS gefunden, jedoch unter dem geltenden EU-Grenzwert.

Was sagt die Wissenschaft?
Langfristiger Kontakt kann gesundheitsschädlich sein. Die Entfernung aus Böden ist technisch sehr aufwendig.

Stand der Daten:
Umweltinstitut Vorarlberg, veröffentlicht 2024

Hinweis der Redaktion: Eine Anfrage von VOL.AT an Amcor blieb bis dato unbeantwortet, wird bei Erhalt aber nachgeliefert.

Häufige Fragen zum PFAS-Skandal bei Amcor

Was ist bei Amcor in Goldach passiert?
Ende 2020 und Anfang 2021 gelangten bei zwei Zwischenfällen insgesamt 910 kg PFAS-haltiger Löschschaum in die Goldach und den Bodensee.

Was ist PFAS?
PFAS ist eine langlebige, krebserregende Chemikalie aus der PFAS-Gruppe. Sie wurde in der Schweiz 2011 verboten.

Wurde nur der Bodensee betroffen?
Nein. Auch die Thur und der Rhein wurden durch PFAS-haltiges Abwasser belastet, das von Amcor in eine Kläranlage gebracht und später eingeleitet wurde.

Welche Folgen hatte der Vorfall?
In Fischen wurden Grenzwertüberschreitungen festgestellt. Auf Flora und Mikroorganismen wurde nicht untersucht. Trinkwasserproben erfolgten verspätet.

Gab es strafrechtliche Konsequenzen?
Der Konzern wurde zu einer Busse von 5000 Franken verurteilt. Weitere juristische Schritte blieben aus.

SPÖ-Einwallner stellt Anfrage zu möglicher Vertuschung

Der Vorarlberger SPÖ-Umweltsprecher Reinhold Einwallner kritisiert, dass sich die Vorarlberger Landesregierung bislang dazu kaum zu diesem Thema zu Wort meldet. Er attestiert ÖVP und FPÖ fehlendes Interesse an einer möglichen enormen Umweltkatastrophe. Deshalb hat er dazu eine parlamentarische Anfrage an die Landesregierung eingebracht.

Reinhold Einwallner will wissen, ob die Landesregierung ihrer Verantwortung im internationalen Austausch gerecht wird. „Sobald im Land irgendwo ein einzelner Wolf auftaucht, setzt die Landesregierung alle Hebel in Bewegung. Angesichts einer potenziellen Umweltkatastrophe am Bodensee hört man bislang aber noch überhaupt nichts“, so Einwallner. Die SPÖ will wissen: Welche Maßnahmen wurden konkret gesetzt, welche Informationen fehlen noch – und warum wird die Bevölkerung nicht umfassend informiert?

(VOL.AT)

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