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"Ohne gewaltigen Willen nicht überlebt"

"Diese Frau muss einen gewaltigen Willen haben, sonst hätte sie nicht überlebt", erklärte David Vyssoki, ärztlicher Leiter des Zentrums für Psychotraumatologie ESRA in Wien.

Daher sei es für sie auch sehr wichtig selbst zu entscheiden. Dies sei gewissermaßen der „gesunde Anteil“, der es möglich gemacht hat, dass sie diesen Wahnsinn überlebt.

Die Weigerung, näher auf Fragen über ihren Entführer Wolfgang Priklopil einzugehen, spreche für eine „gewisse Reife“, berichtete Vyssoki. „Damit will sie sagen, sie braucht Zeit und Distanz.“ Menschen, die Situation wie Kampusch erleben, können keinen angemessenen Abstand zu ihrem Peiniger aufbauen. Dieser Bezug müsse in einem langsamen Prozess und unter Ausschluss der Öffentlichkeit aufgearbeitet werden. Ihr Träume vom Töten Priklopils seien ein klares Zeichen, dass ihr vieles manchmal einfach zu viel gewesen sei.

Auch für die Beziehung zu ihrer Familie brauche das Opfer Zeit, meinte der Experte. Denn für ein adäquates Verhalten zu Eltern und Verwandten muss zuerst die nötige Distanz zum Entführer aufgebaut werden. Man dürfe nicht vergessen, dass die heute 18-Jährige sich zwar intellektuell weiterentwickelt habe, aber eine sehr „dünnhäutige“ Frau sei. Ihre Kommunikation und somit auch ihre Entwicklung war – zwischen Wand, Priklopil und gelegentlich dem Fernseher – sehr reduziert.

Dass Kampusch die Flucht schon seit ihrem zwölften Lebensjahr geplant und erst jetzt durchgeführt habe, sei nicht erstaunlich, so Vyssoki. „Man ist in so einer Situation sogar zu müde, um zu flüchten“, erklärte der Arzt. Wieso Priklopil genau sie ausgewählt habe, sei eine „Schlüsselfrage“, die die junge Frau sicher noch weiter begleiten werde.

Hinter ihrem Wunsch nach Impfungen vermutete Vyssoki mehr als nur ein Vermeiden von Krankheiten. „Sie braucht Schutz, um sich in der neuen Welt zu behaupten.“ Auch die von ihr beschriebenen Herz-Kreislaufprobleme könnten nicht nur auf organische, sondern auch psychische Ursachen zurückgeführt werden. Es gibt zahlreiche psychosomatische Beschwerden – darunter Herzrhythmusstörungen – die Einsamkeit oder fehlende Liebe ausdrücken. Menschen reagieren bei einem massiven Angriff außerdem mit Flucht, Kampf oder tot stellen, erklärte der Experte weiter. Und bei letzterem arbeitet das Herz einfach langsamer.

Verständlich ist für Vyssoki auch die Identifikation mit Magersüchtigen. Genau wie Kampusch bei ihrer Gefangenschaft obliegen diese Menschen gewissen Zwängen, erklärte er. Sie sind an Rituale gebunden, die sie Tag für Tag durchziehen müssen – genau wie die junge Frau bei ihrem Entführer.

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