Michael Enzinger, Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer, sieht in den Geschehnissen einen Akt, der auch “in anderen Diktaturen der Fall ist”.
Schauprozesse und Abschreckungsmaßnahmen in der Türkei
“Wenn zahllose Mitarbeiter der Justiz, Richter und Höchstrichter inhaftiert sind, dann hat sich das sicher nichts mit einem Militärputsch zu tun”, sagte Enzinger. Die Rechtsanwälte hätten schon vor dem Putsch auf “Schauprozesse” in der Türkei hingewiesen und diese beobachtet, damit “von weiteren Übergriffen Abstand genommen wird”. Der Rechtsanwälte-Präsident kritisierte, dass auch Anwälte als “Abschreckungsmaßnahme”an ihrer Arbeit gehindert und eingesperrt werden.
Beitrittprozess fortsetzen: Undenkbar für Enzinger
Die Entscheidung über mögliche Konsequenzen für die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union obliege zwar der Politik. Für ihn selbst sei aber “absolut undenkbar, dass ein Beitrittsprozess (der Türkei) fortgesetzt wird”, betonte der Rechtsanwälte-Präsident. Jedenfalls wäre die vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan diskutierte Wiedereinführung der Todesstrafe “ein absolutes Beitrittshindernis”. “Kein Staat in der EU würde das akzeptieren”, unterstrich Enzinger. Angesprochen auf Folgen für den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal meinte Enzinger, das Flüchtlingsthema habe mit den jetzigen Ereignissen “relativ wenig zu tun”. Die Einschätzung von Kritikern, dass die Türkei eigentlich kein sicherer Drittstaat sei, in den Flüchtlinge zurückgeführt werden können, habe aber “sehr viel für sich”.
Bereits Anfang Juni Zustände kritisiert
Die Wiener Rechtsanwälte hatten Anfang Juni in einer Pressekonferenz auf die Zustände in der türkischen Justiz hingewiesen. Enzinger zog damals Parallelen zum Iran und erinnerte an die Nazizeit, als auch in Europa grauenhafte Dinge “unter dem Deckmantel des Rechts und der Verordnungen” stattgefunden hätten. Der Wiener Rechtsanwalt Clemens Lahner nahm daraufhin als Beobachter an einem der Schauprozesse gegen 22 Anwälte in Istanbul teil, denen Terrorunterstützung und Propaganda für die kurdische PKK angelastet wurden.
(APA/Red.)