Darf man einen neuen Kunden mit Lieber Herr Müller anreden, wenn man ihn gar nicht kennt? Klingt es zu distanziert, Sehr geehrter Herr Müller zu schreiben?
Verbindliche Regeln für E-Mails gibt es so nicht, sagt Jan de Vries, Fachjournalist für Telekommunikation bei Siemens Communications. Daher braucht man viel Fingerspitzengefühl, um die angemessene Anrede zu finden. Grundsätzlich sei man gut beraten, im beruflichen Bereich eher eine förmliche Anrede zu wählen. Unpassend findet de Vries, der zum Thema E-Mail unter anderem einen Online-Kurs verfasst hat, jedenfalls Mails, die mit Hi oder Hey beginnen. Wer mir eine solche Mail schreibt, läuft Gefahr, dass ich den Inhalt weniger ernst nehme.
Vor etwa 20 Jahren gab es diese Probleme nicht, wie Jürgen Plate, Professor für Elektrotechnik und Informationstechnik an der Fachhochschule München, berichtet. Als das Internet noch weitgehend Technik-Freaks vorbehalten war, duzte sich in E-Mails selbstverständlich jeder ob man sich kannte oder nicht. Hallo war als Anrede üblich, sagt Plate. Denn die Internet-User der Anfangsjahre verstanden sich als eine Art eingeschworene Gemeinschaft. Erst als in den neunziger Jahren immer mehr Menschen das Internet entdeckten, war es mit der lockeren Sprache vorbei. Dadurch seien mehr und mehr Formen, die bisher für Briefe galten, übernommen worden, erklärt der Internet-Experte. Schließlich bedienen sich etwa auch zunehmend Behörden des Internets. Es würde schon komisch klingen, Liebes Finanzamt zu schreiben.
Heute schreiben sich meist nur junge Leute ganz locker gehaltene E-Mails, wie Privatdozentin Christiane Thim-Mabrey, Sprachwissenschafterin an der Universität Regensburg, beobachtet. Ansonsten müssen Internet-Nutzer einiges berücksichtigen, um den richtigen Ton zu finden: Hatte man schon mal Kontakt zum Empfänger? Um welchen Anlass handelt es sich? Was ist in der Branche üblich? Wie ist der Adressat einzuschätzen?
Fingerspitzengefühl ist den Experten zufolge auch bei den Grußformeln gefragt. So schreibt zwar kaum jemand Hochachtungsvoll unter eine E-Mail, doch sollte man von allzu lockeren Grüßen im Zweifelsfall die Finger lassen: Ciao, Bye oder Bussi sind nicht für jeden etwas. Bei dem klassischen Mit freundlichen Grüßen kann man dagegen wenig falsch machen: Bei der Umfrage von Antje Olitzscher zumindest wurde diese Formel insgesamt am positivsten bewertet. Nur Empfänger, die mit dem Adressaten befreundet waren, nahmen daran Anstoß.