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Melancholie in Moll: Die stille Leidenschaft der Finnen für den Tango

Wenn man an Tango denkt, zieht unweigerlich das Bild schwüler Nächte in Buenos Aires am inneren Auge vorbei, wo die Körper eng verschlungen zur Musik von Osvaldo Pugliese über das Parkett gleiten.

Doch mehr als 13.000 Kilometer entfernt, in der Stille der nordischen Wälder, hat der Tango eine zweite Heimat gefunden – eine überraschende, tief verwurzelte und bis heute gelebte.

Finnische Chormusik

In Finnland ist der Tango nicht nur ein Importgut aus der Zwischenkriegszeit – er ist ein nationales Kulturgut, ein musikalischer Spiegel der finnischen Seele. Seit den 1930er-Jahren hat sich in dem skandinavischen Land eine ganz eigene Tangotradition entwickelt, die wenig mit der sinnlich-feurigen Dramatik des südamerikanischen Originals gemein hat – und doch tief berührt. Der finnische Tango ist kühler, getragener, melancholischer – aber nicht minder leidenschaftlich. Die große Welle des Tangos erreichte Finnland in den 1940er Jahren – in einer Zeit nationaler Umbrüche, nach dem Winterkrieg gegen die Sowjetunion, als das Land seine Wunden leckte. Es war die Melancholie, die im Tango eine Resonanz fand – dieses schwer fassbare Gefühl der Sehnsucht, der Einsamkeit, das auch dem finnischen Begriff „kaiho“ innewohnt. Der Tango wurde zum Vehikel für Gefühle, über die man nicht sprach, aber die man spüren konnte.

Anders als in Argentinien wurde der Tango in Finnland schnell popularisiert – nicht nur in urbanen Ballhäusern, sondern auch auf dem Land, auf Dorffesten und in Tanzpavillons, sogenannten „Lavatanssit“. Die Texte, zumeist auf Finnisch, handeln von verlorener Liebe, Naturbildern, dem Kreislauf der Jahreszeiten – und spiegeln eine stille, fast stoische Emotionalität, die sich tief in die finnische Identität eingeschrieben hat, wieder.

Einmal im Jahr wird die Stadt Seinäjoki im Westen des Landes zur Hauptstadt des finnischen Tangos. Beim legendären „Tangomarkkinat“, dem Tangofestival, das seit 1985 jährlich stattfindet, strömen Zehntausende Besucher zusammen, um zu tanzen, zu singen – und um die neuen Tangoköniginnen und -könige zu küren. Das Festival ist zugleich Schlagerparade, Schönheitswettbewerb und nostalgische Zeitreise in die goldenen Jahrzehnte des finnischen Tanzschlagers.

Schubert Schönberg

Dort spürt man, wie lebendig der finnische Tango noch ist – als kulturelles Bindeglied zwischen Generationen, als Ausdruck einer ganz eigenen Form der Leidenschaft. In den Liedern von Olavi Virta, Reijo Taipale oder Eino Grön, den großen Ikonen des Genres, lebt diese Tradition weiter. Ihre Lieder klingen nicht exotisch, sondern heimisch – so sehr hat der Tango Wurzeln geschlagen im Norden.

Warum also ausgerechnet der Tango? Vielleicht, weil er ein Ventil bot für eine stille Emotionalität, die im finnischen Alltag selten Raum fand. Vielleicht, weil seine Mollharmonien den Klang der langen Winternächte besser einfangen als jedes andere Genre. Vielleicht auch, weil der Tango den Finnen eine Form gab, ihr Innerstes zu zeigen, ohne zu sprechen – nur mit einem Blick, einem Schritt, einer Umarmung. Der finnische Tango ist kein Exot. Er ist kein Abklatsch. Er ist ein eigenes Genre – verwandt mit seinem argentinischen Bruder, aber unverwechselbar finnisch. Und so steht er für mehr als nur Musik. Er ist Ausdruck einer Mentalität, einer Sehnsucht, die man nicht erklären kann, aber die man fühlt. In jedem Takt, in jeder Drehung, in jeder Pause. Ganz in der Tradition jener still glühenden Sehnsucht, die dem finnischen Tango innewohnt, laden die Bregenzer Festspiele – an der Spitze die neue finnische Intendantin Lili Paasikivi – am 11. August in die Werkstattbühne zu einem besonderen Sommerabend ans Ufer des Bodensees: „Tango am See“ heißt diese Hommage an Finnlands musikalische Melancholie, eine poetische Nacht voller Musik, Tanz und ausgesuchter Getränke – direkt am Wasser, unter freiem Himmel. Es spielt das finnisch-britische Alakulo Ensemble, dessen Name – „Alakulo“ bedeutet auf Finnisch nichts Geringeres als Melancholie – das Programm auf wunderbar passende Weise umschreibt. Die Musiker, allesamt Meister ihres Fachs – David Gordon am Klavier, Chris Garrick an der Violine, Jani Pensola am Kontrabass und Jarmo Julkunen an der Ukulele – interpretieren traditionelle und moderne Tangos aus dem hohen Norden, mal innig, mal mitreißend.

Als Solisten treten zwei Ikonen der finnischen Tangokultur auf: Arja Koriseva, gekrönte Tangokönigin des Jahres 1989, und Johannes Vatjus, Tangokönig von 2019. Durch den Abend führt der in Finnland lebende Schriftsteller Roman Schatz, gebürtig vom Bodensee, der seit fast vier Jahrzehnten zwischen den Kulturen pendelt und längst zu einem der profiliertesten Kenner des finnischen Tangos avanciert ist.

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