Mehr Ökonomen erwarten erste EZB-Zinssenkung bis Jahresmitte

Rund 73 Prozent (62 von 85 Teilnehmern) gingen davon aus, dass die Eurowächter mindestens einmal vor ihrer Zinssitzung im Juli die Schlüsselsätze herabsetzen werden, wie die am Donnerstag veröffentlichte Erhebung ergab. Im Dezember hatten lediglich 57 Prozent der Volkswirte damit gerechnet.
Ökonomen haben ihre Erwartungen rasch angepasst. Noch im November waren Volkswirte mehrheitlich davon ausgegangen, dass die EZB bis zur Jahresmitte 2024 an den Zinsen nicht rütteln wird. Alle Teilnehmer der jüngsten Umfrage vom 12. bis 17. Jänner rechneten damit, dass die Währungshüter am Donnerstag auf ihrer ersten Zinssitzung im neuen Jahr die Füße still halten werden. Damit würde der am Finanzmarkt maßgebliche Einlagensatz, den Geldhäuser erhalten, wenn sie bei der Notenbank überschüssige Gelder parken, auf dem Rekordniveau von 4,00 Prozent bleiben.
Mehrheit erwartet Zinssenkung im Juni
In der Erhebung erwarteten 45 Prozent der Teilnehmer, 38 von 85 Volkswirten, dass die EZB auf ihrer geldpolitischen Sitzung im Juni erstmals die Zinsen senken wird. 21 Ökonomen rechneten damit bereits im April. 23 Volkswirte gingen davon aus, dass die Währungshüter erst im dritten Quartal oder sogar noch später die Kurswende vollziehen. Mehr als 60 Prozent der Teilnehmer, die eine separate Frage beantworteten - 27 von 43 - waren der Auffassung, dass der erste Schritt nach unten auch früher kommen könnte als sie es erwarten. Aus Sicht von 16 Ökonomen ist es möglich, dass die erste Zinssitzung später erfolgen könnte als sie es derzeit annehmen.
Rund 1 Prozent Zinssenkung bis Jahresende erwartet
Wird der Median in der Umfrage herangezogen, rechneten die Ökonomen damit, dass die EZB den Einlagensatz in diesem Jahr um insgesamt 1,00 Prozentpunkte nach unten setzen wird. Damit würde der Satz am Jahresende bei 3,00 Prozent liegen. 36 der 85 Volkswirte sagten einen höheren Einlagensatz zum Jahresende voraus, 27 einen niedrigeren.
IWF-Vize: Notenbanken sollten vorsichtig agieren
Der Internationale Währungsfonds (IWF) rät den Notenbanken bei möglichen Zinssenkungen zu einem behutsamen Vorgehen. Die Inflation werde heuer voraussichtlich weniger stark abnehmen als noch im vergangenen Jahr, sagte IWF-Vizechefin Gita Gopinath der "Financial Times" (Donnerstagausgabe).
Zu den Gründen zählte sie angespannte Arbeitsmärkte und eine hohe Inflation im Dienstleistungssektor in den USA, in Europa und auch anderswo. Daher sei von einem holprigen Weg in Richtung niedrigerer Inflationsraten auszugehen. "Die Arbeit ist noch nicht erledigt", sagte sie. "Die Zentralbanken müssen vorsichtig vorgehen."
Noch kein Sieg zu verkünden
Gopinath warnte Währungshüter zugleich davor, Börsenspekulationen auf rasche Zinssenkungen weiter anzufachen. Sobald Zentralbanken die Zinsen senkten, verfestige sich die Erwartung weiterer Schritte nach unten und am Ende werde dann viel stärker gelockert, was kontraproduktiv sein könne. "Basierend auf den Daten, die wir gesehen haben, würden wir erwarten, dass Zinssenkungen in der zweiten Hälfte, nicht in der ersten Hälfte erfolgen", fügte sie hinzu.
In der Eurozone lag die Inflationsrate im Dezember bei 2,9 Prozent. Noch im Herbst 2022 hatte sie zeitweise bei über zehn Prozent gelegen. Aus den Kursen am Finanzmarkt geht hervor, dass Investoren derzeit davon ausgehen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen bereits im März oder im April erstmals senken wird. Demgegenüber hatten mehrere Eurowächter der EZB zuletzt versucht, die Erwartungen rascher Zinssenkungen etwas zu dämpfen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte am Mittwoch in Davos gesagt, sie werde noch nicht den Sieg über die Inflation verkünden.
(APA/Reuters)