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Marthaler bei den Wiener Festwochen

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"You can win if you want" - diese sich in die Gehörgänge und Gehirnwindungen einschleichende Liedzeile von Modern Talking wird man nach dem Besuch des diesjährigen Festwochen-Gastspiels von Christoph Marthaler nicht so leicht los.

“Platz Mangel” heißt das “Theaterprojekt mit Musik”, das Ende des vergangenen Jahres in der Roten Fabrik in Zürich seine umjubelte Premiere hatte und seit gestern, Dienstag, im MuseumsQuartier auf dem Wege zum Berliner Theatertreffen Zwischenstation beim Koproduktionspartner in Wien macht.

Den genialen Raum, eine etwas heruntergekommene, jedoch mit Kletterwand ausgestattete Seilbahn-Zwischenstation, von der nur noch die untere Teilstrecke in Betrieb ist, hat diesmal nicht Anna Viebrock sondern Frieda Schneider gebaut. Doch wieder ist es ein Ort voller Anspielungen und Rätsel, ein mit dem Rest der Welt nur durch eine regelmäßig einschwebende Gondel verbundenes Durchgangslager zwischen Himmel und Hölle, Tod und Leben. Dass es auf diesem Zauberberg um die letzten Dinge geht, möchten sie nun Lebensglück durch Fettabsaugung, Selbstmord mit vorheriger Organspende oder bußfertige Erniedrigung bei gleichzeitiger Profitmaximierung heißen, wird in den besten Momenten dieser zweieinviertelstündigen Aufführung bitterböse deutlich gemacht.

“Bye bye friends, we have to go, it’s the end of our show”: In bester Marthaler-Manier beginnt der musikalisch wie textlich bunt collagierte Abend (der bei den Liedern von Schubert und Bach bis zu Brigitte Bardot und bei den Texten von Peter Altenberg und Antonin Artaud bis zum modernen Wellness- und Wirtschafts-Jargon reicht) mit einem Abschiedsliedchen. Es ist die Stunde der Hammond-Orgeln und des müden Entertainments von skurrilen Gestalten in kuriosen Kostümen. Der Schweizer Theatermacher hat sein Erfolgsrezept seit Jahren nur wenig abgewandelt, und man sieht diesem Treiben – weil es frech gemacht und perfekt einstudiert ist – immer wieder gerne zu. Dazwischen gibt es auch einige Leerläufe und Längen, die aber mehr als wettgemacht werden, wenn zwischen gemeinschaftlichem Singen mit dem roten Faden gestrickt wird.

Aus der Tourismus-Zweckbau-Ruine soll nämlich neues Leben blühen. “DDr. Bläsis Höhen- und Tiefenklinik” feiert Eröffnung, und der freundliche Herr am elektronischen Klavier, der die ersten reichen Patienten begrüßt (alle offensichtlich Mitglieder von Keks-Industriellen-Familien, von Bahlsen bis zu Manner), stellt sich als Leiter der “Abteilung für Phonophorese und progressive Muskelentspannung” vor. Die verunsicherte Kundschaft muss hier einiges über sich ergehen lassen, was einem kalte Schauer über den Rücken jagt, und auch die “Atemreduktionstherapie” wird erst knapp vor dem Ersticken abgebrochen – denn die Organe der Patienten sollen sich ja unbeschadet in den weiteren Wirtschaftskreislauf einbringen lassen. Was genau hier gespielt wird, bleibt in Schwebe wie die letzte Gondel, in die sich die gedemütigten und möglicherweise bereits im buchstäblichen Sinne ausgenommenen Patienten am Ende drängen.

“Platz Mangel” ist ein typischer Marthaler-Abend, der jedoch zwischen Gesang, stoischer Situationskomik und Mummenschanz ungewöhnliche Grusel-Qualitäten entfaltet. Bei der Wien-Premiere gab es viel Applaus dafür. Bis Samstag sind vier weitere Vorstellungen angesetzt.

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