"Man darf nicht krank werden" – Lieferando-Fahrer über brutale Arbeitsrealität

Seit März 2025 entlässt Lieferando schrittweise 600 Fahrer in Österreich und stellt auf freie Dienstverträge um – das bedeutet: kein bezahlter Urlaub, kein Weihnachtsgeld und keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Fahrer tragen nun das volle Risiko selbst, während der Konzern Kosten spart – ein System, das laut Kritikern auf Ausbeutung und maximalen Profit ausgelegt ist.
"Täglich elf Stunden unterwegs"
Ein Lieferando-Fahrer, der anonym bleiben möchte, gewährt VOL.AT einen ehrlichen und schonungslosen Einblick in seinen Arbeitsalltag. "Wenn man krank wird, bekommt man kein Geld – deshalb darf man im Grunde gar nicht krank werden", erklärt er nüchtern. Viele Fahrer würden auch dann arbeiten, wenn sie sich gesundheitlich eigentlich schonen müssten. Eine Absicherung in solchen Fällen gebe es nicht, was ihn und andere bei krankheitsbedingtem Ausfall in eine schwierige Lage bringe.
Auch Urlaub ist für ihn mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden. "Ich habe mir letztes Jahr einmal einen Monat freigenommen. In dieser Zeit habe ich keinen einzigen Cent verdient", berichtet er. Das bedeutet für ihn: Im Urlaubsmonat selbst reicht das Geld kaum aus, und auch im darauffolgenden Monat müsse man mit Einbußen rechnen. Zwar habe er mit etwas Glück im Folgemonat durch mehr Einsätze wieder etwas aufholen können – "aber das Geld war knapp".

Die Arbeitszeiten sind lang und fordernd. Laut dem Fahrer beginnt sein Arbeitstag meist um 11 Uhr vormittags und endet gegen 22 Uhr – Pausen seien selten. "Ich bin täglich elf Stunden unterwegs. Die erste Bestellung kommt meistens gegen halb zwölf, aber man muss vorher bereit sein. Und auch abends bin ich, wenns gut geht, erst um halb zehn fertig. "Dazu kommt noch die Sechs-Tage-Woche, die bei Lieferando auf dem Programm stehe. "Eigentlich ist nur ein freier Tag in der Woche vorgesehen. Theoretisch kann ich auch nur fünf Tage arbeiten, aber dann mache ich enorm viele Minusstunden, die ich ja irgendwann auch wieder aufholen muss", erklärt der Fahrer.
Trotz dieser Herausforderungen findet er die Bezahlung grundsätzlich angemessen – allerdings nur, wenn man Vollzeit und ohne Ausfälle arbeitet. "Die Entlohnung passt schon, aber man muss eben fast jeden Tag viele Stunden im Dienst sein – sonst geht sich das finanziell nicht aus."
Seine Erfahrungen zeigen deutlich, wie prekär die Situation vieler Zusteller ist, die im Hintergrund des bequemen Online-Bestellens arbeiten. Flexibilität und Selbstbestimmung mögen auf dem Papier attraktiv klingen – in der Realität bedeuten sie für viele jedoch Unsicherheit, finanzielle Engpässe und kaum soziale Absicherung.
Lieferando-Sprecherin: "Passen uns dem Branchenstandard an"
Vor dem Hintergrund dieser Aussagen wirkt die jüngste Entscheidung von Lieferando, das Geschäftsmodell in Österreich vollständig auf freie Dienstverhältnisse umzustellen, besonders brisant. Im Gespräch mit VOL.AT betont Katrin Wala, Pressesprecherin von Lieferando Österreich, dass dieser Schritt eine Anpassung an die Marktbedingungen sei: "Wir haben das Modell der Festanstellung über Jahre hinweg unterstützt und Benchmarks für die Branche gesetzt. Gleichzeitig braucht es aber gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle. Da unsere Mitbewerber unserem Beispiel nicht gefolgt sind, arbeiten wir mit einem Wettbewerbsnachteil." Die Umstellung sei deshalb notwendig gewesen, um nachhaltig wirtschaften und wachsen zu können.
Wie viele Fahrer aktuell bereits unter dem neuen Modell tätig sind – insbesondere in Vorarlberg – könne man derzeit noch nicht sagen. "Die Umstellung erfolgt schrittweise in den kommenden Wochen und Monaten", so Wala. Auch zur konkreten Situation in ländlichen Regionen wie Vorarlberg wollte sie sich mit Verweis auf die laufende Umsetzung noch nicht äußern. Man sei jedoch bemüht, das Serviceangebot in Vorarlberg weiter auszubauen.

Kritik von Arbeitsrechtsexperten, dass freie Dienstverhältnisse deutlich weniger soziale Absicherung bieten – etwa bei Krankheit, Urlaub oder Schwangerschaft – begegnet Lieferando mit dem Hinweis auf gesetzliche Rahmenbedingungen. "Unabhängig vom Logistik-Modell sind wir weiterhin bemüht, faire und attraktive Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Für Details zu Versicherung und Absicherung verweisen wir auf die offiziellen Informationen für freie Dienstnehmer."
Auch zur Ausstattung gibt es laut Lieferando Unterstützung: "Fahrer können bei Bedarf Ausrüstung wie Jacken, Helme und Taschen von uns erhalten", erklärt Wala. Die Fahrräder würden selbst mitgebracht, wie es bereits im bisherigen Modell häufig der Fall gewesen sei. Man arbeite aber auch an Partnerschaften mit lokalen Bike- und E-Bike-Anbietern, um bei der Fahrzeugbeschaffung zu unterstützen.
Auf Vorwürfe der Ausbeutung reagiert Wala gelassen: "Im neuen Logistikmodell können wir dem Wunsch nach mehr Flexibilität und Selbstbestimmung besser nachkommen." Gleichzeitig verspreche sich das Unternehmen von der Umstellung ein effizienteres Netzwerk, das auch den Fahrern zugutekommen soll – etwa durch mehr Aufträge und höhere Umsätze.
Ob es künftig im neuen Modell auch Elemente von Mitbestimmung oder mehr sozialer Absicherung geben wird, ließ Wala offen. "Dazu können wir aktuell noch keine Detailinformationen geben."
Arbeiterkammer kritisiert: "Lieferando wälzt Risiko auf Beschäftigte ab"
Die Arbeiterkammer Vorarlberg hingegen sieht in der Umstellung von Fixanstellungen auf freie Dienstverhältnisse bei Lieferando eine klare Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. "Wenn von Fixanstellungen auf freie Dienstverträge umgestellt wird, dann wird damit auch das wirtschaftliche Risiko auf die Beschäftigten verlagert", sagt Christian Maier, Arbeitsrechtsexperte der AK Vorarlberg. Er warnt vor einem Rückschritt in Sachen sozialer Absicherung: "Freie Dienstnehmer haben keinen Anspruch auf Erholungsurlaub, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und keine geregelten Arbeitszeiten. Die Gefahr der Selbstausbeutung steigt."

Besonders kritisch sieht die AK, dass Lieferando sich so offenbar dem Kollektivvertrag für Fahrradboten entziehen will – ein europaweit einzigartiger Vertrag, der unter anderem Mindestlohn, Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie Arbeitszeitregelungen für Fixangestellte regelt. "Dieser Kollektivvertrag dürfte Lieferando ein Dorn im Auge sein", so Maier. Hinzu komme die algorithmische Steuerung der Arbeit durch GPS- und Kundendaten: Wer Aufträge nicht wie gewünscht erledigt, könne künftig mit schlechteren Rankings rechnen – und damit mit weniger Einkommen.
Die AK will die Entwicklung genau beobachten. "Ob tatsächlich freie Dienstverhältnisse oder ein Missbrauch vorliegt, wird die AK bei allen Unternehmen der Branche genau prüfen", betont Maier. Noch gebe es keine konkreten Anfragen betroffener Fahrern aus Vorarlberg, doch die AK stehe für Beratung und rechtliche Unterstützung bereit. Gleichzeitig fordert Maier klare gesetzliche Regelungen: "Der freie Dienstvertrag sollte drastisch eingeschränkt werden. Wenn nicht, dann braucht es zumindest die rasche Umsetzung der europäischen Plattformarbeitsrichtlinie."
(VOL.AT)