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Leben mit Bulimie: "War ein wandelndes Ausrufezeichen"

Bulimia nervosa ist der Fachbegriff für die Ess-Brech-Sucht.
Bulimia nervosa ist der Fachbegriff für die Ess-Brech-Sucht. ©APA
Julian* kämpft seit rund zwei Jahren mit der Essstörung Bulimia nervosa. Er war bei WANN & WO zu Besuch und erzählte seinen Weg bis zu den 48 Kilogramm.

Als Julian vor eineinhalb Jahren mit seinem jüngeren Bruder im Dornbirner Hallenbad schwimmen ging, musterten ihn schockierte Blicke. Einige Mütter hielten ihren Kindern sogar die Augen zu. „Ich sah damals aber auch wirklich schlimm aus“, erinnert sich der Unterländer zurück.

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Der erste Vorfall

Julian prägt eine schwierige Kindheit und Jugend. Schon früh machte er Erfahrungen mit Mobbing und baute sich mit der Zeit eine immer höhere emotionale Schutzmauer auf. Wie er selbst beschreibt, hatte er damals einen „festeren Körperbau“. Liebe und Fürsorge für sich selbst, war bei ihm keine übrig: „Ich habe mich oft in Situationen gebracht, die mir nicht gutgetan haben“. Und so startete er mit einer Diät. Sein Ziel: „Auf 59 Kilo abnehmen und dann Muskeln aufbauen.“ Rückblickend kann er sich selbst nicht mehr erklären, was er sich davon erhofft hat. Er kam seinem Ziel schnell näher, doch der Jo-Jo-Effekt machte auch vor ihm keinen Halt. Heißhungerattacken warfen ihn beim Abnehmen immer wieder zurück. Dass sein Essverhalten zum Problem werden könnte, war ihm dabei die ganze Zeit bewusst. „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich es nicht bemerkt habe“, gesteht er.

Im Oktober 2021 kommt es dann zum ersten Vorfall. Dort nahm er das erste Mal eine Mahlzeit zu sich, mit dem guten Gewissen, dass er sich danach übergibt. „Ich habe immer gerne gegessen. Und dann habe ich realisiert, dass ich nicht darauf verzichten muss, solange ich danach erbreche.“ Die Kontrolle über seinen Körper fasziniert ihn. „Ich habe die Erdnussbutter nicht einmal auf dem Brot verstrichen, weil ich so gierig war.“ Um sicherzustellen, dass der Zopf samt Erdnussbutter wieder aus seinem Körper verschwindet, hing er sich unter den Wasserhahn. „Ich habe ganz viel getrunken, um beim nächsten Erbrechen meinen Magen richtig auszuspülen. Da war nichts mehr. Bis mein Magen aufgehört hat zu arbeiten“.

Als Julian sich eingesteht, dass es ihm nicht gut geht, sucht er das Gespräch. „Ich habe es meinem Umfeld erzählt, weil ich wollte, dass sie es wissen“, berichtet er. Die ersten, denen er davon erzählt hat, waren seine Großeltern. Auch der enge Familien- und Verwandtschaftskreis erfährt von ihm persönlich von seiner Krankheit. Besonders sein Vater zeigt eine bemerkenswerte Veränderung. „Derjenige, der früher immer sagte ‚Iss doch mol an Brota’, weiß jetzt am besten Bescheid.

Kampf gegen eigenen Körper

Schon vier Monate nach dem ersten Vorfall entschied sich Julian für eine Therapie in Vorarlberg. Doch um es vorwegzunehmen: Sie half ihm nichts. Seiner Begründung nach mangelte es an Kontrolle. „Ich hatte eine Toilette in meinem Zimmer, ich konnte alles abschließen und sogar alleine essen.“ Im Nachhinein wurde ihm klar, dass er mit der falschen Einstellung an die Therapie herangegangen ist. „Ich habe die Therapie nach dem Motto ‚Heilt mich’ gestartet. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ich selbst auch etwas dafür tun muss.“ Bei seiner zweiten Therapie in Kärnten, nur zwei Monate nach der ersten, spürt er jedoch bereits deutliche Verbesserungen. Doch als er die Klinik im Oktober verließ, ging es ihm wieder zunehmend schlechter. Sein Tiefpunkt: 48 Kilo.

Menschen mit Essstörungen haben ein verzerrtes Bild von ihrem Körper.
© OTS

Der Nährstoffmangel ging nicht spurlos an seinem Körper vorbei. Unregelmäßiger Herzschlag, krampfende Muskeln, schlaflose Nächte, Zähne und Hals verätzt von der Magensäure, das Gesicht angeschwollen von den entzündeten Speicheldrüsen, eine schiefe Haltung, weil er die Kraft nicht hatte, sich aufrecht zu gehen. „Ich habe mich so geschämt unter Menschen zu gehen, weil ich so aussah“, erinnert er sich zurück. Außerdem musste er mit enormen Schulden kämpfen. Für Hamstereinkäufe zahlt er teilweise 70 Euro „und es gab Tage, da war ich zweimal einkaufen. Das geht ins Geld“. So durfte es nicht weitergehen, das war ihm bewusst. Erneut entscheidet er sich für eine Therapie. „Die Therapeuten bohrten an jeder Stelle und da, wo es so richtig weh tut, hacken sie besonders stark nach.“ Als er die Therapie jedoch aus privaten Gründen frühzeitig beenden muss, bricht eine Welt zusammen. „Ich wusste nicht, wie ich es draußen allein schaffen soll“. Doch der Wille, das alte Leben wieder zurückzuhaben und gesund zu werden, war stärker. Er fing an, Tagebuch zu schreiben und zu meditieren– Dinge, die er sich vor seiner Essstörung nicht vorstellen hätte können. Auch die Essenszeiten hielt er ein, um nicht aus der Routine zu kommen. Mittlerweile ist Julian sogar wieder stark genug, um Sport zu machen und ist „in der besten körperlichen Verfassung seit Langem“.

Positiver Blick in die Zukunft

Trotz Unterstützung aus seinem Umfeld war er die wichtigste Person auf seinem Weg. Dass ihn die Krankheit noch lange begleiten wird, ist ihm klar, doch er blickt zuversichtlich in die Zukunft. Auch wenn die Bulimie auch heute noch in seinem Kopf schreit, wenn er Süßwaren sieht, weiß er jetzt, wie er sie leiser kriegt. „Natürlich passiert es noch, dass ich nach dem Essen aufs Klo gehe, doch an dem mache ich meinen Fortschritt nicht fest. Es sind Vorfälle und keine Rückfälle“, betont er.

*Julians Name wurde geändert und ist der Redaktion bekannt.

(WANN & WO)

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