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Kurz möge sich entschuldigen

©APA/HELMUT FOHRINGER
Gastkommentar von Johannes Huber. Im Sinne seiner eigenen Glaubwürdigkeit und der Wirkung notwendiger Kurskorrekturen wäre es dringlich, dass der Kanzler seine Fehleinschätzungen eingesteht.

Der Regierungschef zeigt Größe. „Wir haben eine Fehleinschätzung gemacht“, bedauert er in einer Rede an die Bevölkerung: „Das tut uns leid.“ Nein, die Worte stammen nicht vom österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), sondern vom niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte. Gewählt hat er sie diese Woche, um eine Kurskorrektur zu begründen: In der Annahme, dass es das Infektionsgeschehen zulässt, hatte man gerade erst die Maskenpflicht gelockert und die Nachtgastronomie geöffnet. Jetzt sind die Zahlen aber wieder nach oben geschossen, sind wieder Verschärfungen notwendig geworden.

Sebastian Kurz sollte sich ebenfalls entschuldigen; am besten gemeinsam mit Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne): Dieser hat im Juni „einen Sommer wie damals“, also vor Corona, angekündigt. Kurz machte sogar Lust auf Party: „Alles was Spaß macht am Abend und in der Nacht kann wieder stattfinden“, versprach er: „Es kann getanzt, gefeiert, geheiratet werden.“ Zuletzt sprach er zudem von einem Rückzug des Staates aus der Pandemiebekämpfung, übertrug sie im Sinne einer Privatsache sozusagen in die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger: Für jeden der geimpft ist, ist die Pandemie vorbei, alle anderen müssen damit rechnen, zu erkranken.

Das hat was. Mit der Eigenverantwortung ist es aber so eine Sache: Bisher ist von staatlicher Seite her bis ins kleinste Detail hinein festgelegt worden, was geboten und verboten ist. „Selber denken“ ist einer Masse ausgetrieben worden. Zuletzt gab es die Ermunterung, wieder Party zu machen. Das kippt ein bisschen schnell von einem Extrem ins andere.

In diesem Sinne müsste nun also auch genau erklärt werden, was Eigenverantwortung bedeutet: Heißt es etwa, im Falle einer Infektion alle Kontaktpersonen selbstständig zu informieren, weil die Behörden ja jetzt schon wieder überfordert sind, wie man beim Ibiza-U-Ausschuss-Cluster gesehen hat? Im Schweizer Kanton St. Gallen hat man das im vergangenen Winter gemacht: Menschen mit einem positiven Testergebnis wurden verpflichtet, Leute, mit denen sie zuletzt Kontakt hatten, in Kenntnis zu setzen. Das nennt man Bürgerbeteiligung oder -in-die-Pflicht-nehmen.

Wie auch immer: Wirklich schlimm ist, dass dieser „Sommer wie damals“ ebenso ins Wasser fällt wie das „Licht am Ende des Tunnels“- und „Rückkehr zur Normalität“-Gerede: Zu viele Menschen sind noch nicht geimpft, geschweige denn vollimmunisiert. Bei den einen ist es auf Skepsis oder gar Verweigerung zurückzuführen, bei den anderen darauf, dass sie erst in den vergangenen Wochen einen Termin für eine erste Dosis erhalten haben. Parallel dazu zieht nun aber eben mit „Delta“ die nächste Infektionswelle ins Land, womit eine besorgniserregende Entwicklung vorprogrammiert ist. Das Prognosekonsortium des Gesundheitsministeriums geht davon aus, dass sich allein in Wien die Zahl der Corona-Spitalspatienten bis Ende Juni verdoppelt.

Beschränkungen bzw. die Rücknahme gerade erst vorgenommener Lockerungen zeichnen sich ab. Vor diesem Hintergrund wäre es dringlich, dass sich Sebastian Kurz für bisherige Fehleinschätzungen entschuldigt: Es würde seine Glaubwürdigkeit stärken, und diese Glaubwürdigkeit wäre gerade jetzt so wichtig, weil Appelle des Kanzlers, sich impfen zu lassen oder im Alltag wieder vorsichtiger zu sein, von viel mehr Menschen ernst genommen werden müssen. Ja, es ist nicht übertrieben, festzustellen, dass das von nationalem Interesse ist.

Johannes Huber betreibt den Blog dieSubstanz.at – Analysen und Hintergründe zur Politik

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