Bundeskanzler Karl Nehammer schafft es nicht, „seine“ Volkspartei auch nur annähernd bei den 37,5 Prozent zu halten, die sie unter Führung von Sebastian Kurz bei der Nationalratswahl vor sechs Jahren erreicht hat. Natürlich: Zu einem erheblichen Teil würde das nicht einmal Kurz selbst zusammenbringen: Profitiert hatte er damals vor allem von der FPÖ-Krise infolge der Ibiza-Affäre. Und diese Krise ist für die FPÖ längst vorbei. Außerdem befanden sich die Umfragewerte der ÖVP schon vor seinem Abgang im Herbst 2021 im Sinkflug.
Das alles reicht als Erklärung dafür aber noch nicht aus, dass die ÖVP – Stand heute – Platz eins bei der kommenden Nationalratswahl vergessen kann bzw. an die Freiheitlichen von Herbert Kickl abgeben muss. Ja, dass sie befürchten muss, hinter der SPÖ auf Platz drei zu landen. Das hat schon auch mit dem Unvermögen von Nehammer zu tun, einen Kanzlerbonus herauszuholen.
Bei einer Direktwahl würde er Umfragen zufolge nur auf ein Fünftel der Stimmen kommen. Wobei er es sich zu einfach machen würde, das auf die vielen Herausforderungen zurückzuführen, mit denen er konfrontiert ist und etwa darauf zu verweisen, dass sich ein Regierungschef in Zeiten der Teuerung nicht beliebt machen kann. Es kommt schon auch dazu, dass er nicht er selbst ist; dass er keinen eigenständigen – und damit authentischen – Kurs fährt, sondern krampfhaft versucht, ein bisschen Freiheitliche und ein bisschen Kurz zu kopieren.
Das erklärt erst das ganze Ausmaß der Begeisterung, mit der Sebastian Kurz bei der Premiere der ersten Doku über ihn, die gerade in die Kinos gekommen ist, von hunderten Türkisen gefeiert worden ist. Es ist deutlich geworden, dass er für viele Funktionäre noch immer der Obmann der Herzen ist. Er weckt eine Sehnsucht nach besseren Zeiten. Und diese Sehnsucht lässt die Anklageerhebung wegen mutmaßlicher Falschaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss sowie darüber hinaus noch laufende Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) nicht vergessen; im Gegenteil, das befeuert eher sogar eine „Jetzt erst recht“-Stimmung.
Das ist sogar nachvollziehbar: Allen in der ÖVP, auch denjenigen, die nichts mehr von einem Comeback wissen wollen, ist klar, dass türkise Politik nur mit Sebastian Kurz zu Wahlerfolgen führen kann. Sie ist untrennbar mit seiner Person verbunden.
Vielleicht beginnt das erst wirklich zu sickern, weil sichtbar wird, wo die ÖVP auf Bundesebene mit Nehammer liegt. Oder in Wien mit Karl Mahrer, der im Geiste von Kurz unterwegs ist, aber nicht annähernd so viel Zuspruch erfährt wie dieser. Was ebenfalls wenig überraschend ist: Kurz wirkte nicht zuletzt auch durch seine Rhetorik. Er hatte klare, einfache Botschaften und die Gabe, sie so zu vertreten, dass er eine Masse auf seiner Seite hatte. Das fehlt Mahrer genauso wie Nehammer.
Johannes Huber betreibt den Blog dieSubstanz.at – Analysen und Hintergründe zur Politik