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ImPulsTanz: Jan Fabre greift tief in die Trickkiste der Trauer

Wie wirft man sich vor eine Modelleisenbahn? Mit einer Zehe, mit offenem Mund, auf den Gleisen hockend.

Die Faszination des Selbstmords, der Sog ins Nichts, ist das schaurig-beschauliche Thema in Jan Fabres Solokreation “Another sleepy dusty delta day”, die von der kroatische Tänzerin Ivana Jozic gestern, Donnerstag, bei ImPulsTanz im Kasino am Schwarzenbergplatz exerziert wurde. Der Zeremonienmeister Fabre hat wieder tief in die Trickkiste der Trauer gegriffen.

Der Abschiedsbrief des Geliebten knistert, wenn sie ihn auffaltet. An “Sweet Princess”, geschrieben auf der Brücke, kurz vor dem Absprung. Inspiriert wurde Fabre von dem Country-Hit “Ode to Billie Joe” von Bobby Gentry aus dem Jahr 1967, in dem ein Mädchen beim Abendessen beiläufig vom Selbstmord eines Nachbarjungen erfährt. “What happened to your appetite?” fragt ihre Mutter, als sie keinen Bissen mehr anrührt. Mehr Information über die Beziehung der beiden ließ sich Bobby Gentry, die für den Song mit drei Grammys ausgezeichnet wurde, nie entlocken. Auch Jan Fabre lässt das Geheimnis um Billie Joe MacAllisters Sprung von der Brücke unangetastet. Es ist die Hinterbliebene, für deren Schmerz er sich interessiert.

Schon 2003 kreierte Jan Fabre eine Soloperformance für Ivana Jozic – passenderweise mit dem Titel “Angel of Death”. Ein Todesengel ist sie auch hier – als Vorleserin des Briefes, als Sängerin des Liedes, als Tänzerin des Verlusts. Begleitet vom Surren der elektrischen Modelleisenbahnen, die auf fünf auf der Bühne verteilten Kohlehaufen ihre Runden drehen, ergreift der Tod, der ihr den Geliebten wie eine Nebenbuhlerin entriss, von ihr Besitz. Schüttelt und elektrisiert sie, löst Zwangsneurosen und hysterische Fröhlichkeit aus. Mal wird sie zur fließbandhaften Kohlearbeiterin, die sich nach getaner Arbeit jeweils eine Flasche Bier aus diversen Verstecken krallt und schlechte Witze reißt. Mal umfasst sie ihre Körper in einer ständig unterbrochenen Drehung, wie um sich selbst in der Umarmung zu trösten. Mal wird sie unberechenbar grausam, wenn sie einen der vielen Wellensittiche aus seinem von der Decke baumelnden Käfig nimmt und mit der Bierflasche erschlägt.

Der tote Vogel, der knittrige Abschiedsbrief, der kleine Zug, der ihr das Leben nicht nehmen kann – sie bilden die Eckpfeiler der zeremoniellen Architektur des kurzen Abends. Den Text zum Stück veröffentlichte Fabre in einem Band mit seiner letztjährigen Festspiel-Kreation “Requiem für eine Metamorphose”. Doch was er in Salzburg als wortwörtlich todsicheres Spektakel inszenierte, legte er gestern in Wien von innen frei. Es muss wohl ein Zufall sein, dass es für dieses neue Stück keinen treffenderen Kernsatz geben könnte, als das diesjährige Salzburger Festspiel-Motto: “Denn stark wie die Liebe ist der Tod”.

“Another sleepy dusty delta day” von Jan Fabre und mit Ivana Jozic, weitere Vorstellungen morgen, 26. Juli, 21 Uhr, am 27. Juli 19 Uhr, Zusatzvorstellung am 25. Juli, 21 Uhr, Karten und Infos unter http://www.impulstanz.at

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