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Hochwasser kommt so nahe wie im Jahr 1432

Fast auf den Tag genau 570 Jahre ist es her, dass die Elbe zuletzt die Altstadt des idyllischen Touristenziels Wittenberg berührt hat.

An diesem Sonntag aber trennen nur sechs Schritte und eine flache Linie von Sandsäcken den Fluss von den Häusern.

Dennoch herrscht in den Straßen um die historische Schlosskirche, wo Martin Luther einst seine 95 Thesen angeschlagen haben soll, eine verhältnismäßig gelassene Stimmung. Rund um den Marktplatz sitzen Pensionisten und Touristen in Straßencafes oder essen Pizza. Denn hier dringt nur ein schwaches Rinnsal über einen Graben ein. Die Hauptfront, wo verzweifelt um jeden Meter Deich gekämpft wird, liegt im Umland. Am gegenüberliegenden Südufer überwältigte die Elbe den Deich. Sie überspülte Vororte und fraß sich kilometerweit ins Land.

„Sie wollen nach Pratau? Pratau gibt’s nich’ mehr“, sagt ein Polizist an der Flutabsperrung. Tatsächlich hat die Elbe in dem südlichen Stadtteil sämtliche Häuser mehr als einen Meter unter Wasser gesetzt. Insgesamt 35.000 Menschen mussten im Umland schon vor dem Deichbruch ihre Häuser zurücklassen, 2.000 alleine in Pratau.

Uwe Brunner ist einer von ihnen. Seine Firmenunterlagen konnte der Vermögensberater gerade noch in Sicherheit bringen. „In meinem Büro steht das Wasser bis zur Decke. Da berät man die Leute jahrelang, dass sie ein bisschen Geld zur Seite schaffen, und dann sowas. Meine Kunden sind auch alle betroffen.“ Der 43-Jährige starrt in die Fluten und beißt grimmig auf seine Lippen: „Hier hätte Tage früher der Deich verstärkt werden müssen.“

Ronald Grauert, Verantwortlicher im Krisenstab von Wittenberg, ist an den roten Augen anzusehen, dass er seit Donnerstag kaum geschlafen hat. „Eine ernste Lage ist gar kein Ausdruck“, sagt er. Vier Hubschrauber der Bundeswehr kreisen über Wittenberg. Sie versuchen, die 20 Meter breite Lücke im Deich zu füllen, indem sie Netze mit Sandsäcken abwerfen. „Das ist ein Strohhalm, an den wir uns halten.“

Bei etwa sieben Metern erreicht die Elbe am Nachmittag den Höhepunkt der Flut. Die Helfer kämpfen bis zur äußersten Erschöpfung. Zusätzlich müssten die Einsatzkräfte nunmehr die südliche Gegend um Kemberg schützen. Sie liegt in einer Senke. Eine zweite Deichlinie soll dort die Fluten stoppen. Im östlich von Wittenberg gelegenen Mauke mussten die Helfer ihre Arbeiten am Deich abbrechen. Sie hätten im Notfall keinen Fluchtweg gehabt.

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