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Heftige Diskussion zum neuen Srebrenica-Buch

Der Autor Germinal Civikov wagt sich in seinem Buch "Srebrenica. Der Kronzeuge" an ein sehr sensibles Thema: An die Massenmorde von Srebrenica im Juli 1995, die als schwerstes Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gelten und die vom Internationalen Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag als Völkermord eingestuft wurden.

Im Zentrum der Recherche von Civikov steht der Kronzeuge Drazen Erdemovic, dessen Aussagen für das UNO-Tribunal die Basis für viele Urteile bilden. Der Autor zerlegt und zerpflückt die Aussagen von Erdemovic in ihre Einzelteile, weist auf einige Widersprüchlichkeiten hin und bringt damit die Glaubwürdigkeit des Zeugen ins Wanken. Civikov geht sogar so weit, dass er dem Tribunal unterstellt, nach politischen Vorgaben zu arbeiten.

Erdemovic, ein bosnischer Kroate, wurde am 3. März 1996 in der Nähe von Novi Sad in Serbien festgenommen. Er gestand, Mitte Juli 1995 als Angehöriger einer Spezialeinheit der bosnisch-serbischen Armee (10. Sabotageeinheit) an der Erschießung von etwa 1.200 muslimischen Zivilisten aus Srebrenica beteiligt gewesen zu sein. Etwa einen Monat später wurde er von Belgrad an das Haager Tribunal ausgeliefert. Dort wiederholte er sein Geständnis. Und Erdemovic, dessen Geschichte übrigens auch die Grundlage für die internationalen Haftbefehle gegen Radovan Karadzic und Ratko Mladic geliefert hatte, nannte die Namen der Mittäter des Massenmordes auf der Branjevo-Farm beim Dorf Pilica.

Civikov: “Unmöglich 1200 Menschen in fünf Stunden zu erschießen”

Der 1971 im bosnischen Tuzla geborene Erdemovic wurde zum Kronzeugen der Anklage für die Massenmorde von Srebrenica. Er gestand, 70 bis 100 Zivilisten erschossen zu haben. Dafür erhielt er fünf Jahre Haft, wovon er dreieinhalb absitzen musste. Tatsächlich haben die Ermittler an Ort und Stelle 153 Leichen ausgegraben. 153 wehrlose Zivilisten zu erschießen, bleibe natürlich ein “ganz schweres Kriegsverbrechen”, doch diese Zahl sei “etwas zu mager, um mit ihr einen Völkermord an den bosnischen Muslimen zu untermauern”, meint Civikov. Für den Autor sind viele Aussagen von Erdemovic “widersprüchlich und inkonsistent”. Selbst die von Erdemovic geschilderten Massenerschießungen zweifelt er an: “Es ist einfach unmöglich, in kaum 5 Stunden 1.200 Menschen auf die vom Zeugen dargestellte Art und Weise zu erschießen”.

Erdemovic bereits nach 5 Jahren ein freier Mann

Seit 2000 lebt Erdemovic mit einer neuen Identität in einem westeuropäischen Land und tritt immer wieder vor dem Tribunal als Zeuge auf. “Erdemovic ist heute nach wie vor der einzige Zeuge, der als Täter den Beweis für den Mord an 1.200 muslimischen Zivilisten liefert, obgleich er als Angeklagter und später als Zeuge der Anklage in mehreren Strafverfahren beim Tribunal die Namen seiner Mittäter laut und deutlich nennt.” Aber bis auf den heutigen Tag sei keine dieser Personen als Zeuge einvernommen, als Täter angeklagt oder gar verhaftet worden, wundert sich Civikov.

Milorad Pelemis etwa, der Kommandant der 10. Sabotageeinheit der bosnisch-serbischen Armee, der den Massenmord angeordnet haben soll, lebt heute unbehelligt in Belgrad. Oder der bosnische Kroate Marko Boskic, ebenfalls ein von Erdemovic erwähnter Mittäter, der im April 2004 in der Nähe von Boston in den USA wegen eines Verkehrsdelikts festgenommen wurde. Gegenüber dem FBI gestand Boskic seine Mittäterschaft am Massaker. Das UN-Tribunal habe jedoch unter dem Hinweis, dass man eine überlastete Institution sei und man sich auf die “großen Fische” konzentrieren müsse, kein Interesse an Boskic gezeigt, schreibt der bulgarische Literaturwissenschafter Civikov, der seit 1975 in Den Haag lebt, von wo aus er auch als Journalist tätig war. “Das Tribunal sperrt sich vehement dagegen, die Mittäter von Erdemovic zu vernehmen, um die offensichtliche Unglaubwürdigkeit seiner Geschichte zu überprüfen.”

Civikov stellt Zeugenaussagen in Frage

Erdemovic kämpfte in den jugoslawischen Bürgerkriegen (1991-1995) für alle Konfliktparteien: Zunächst für die bosnisch-muslimische Armee, um dann in die Armee der bosnischen Kroaten und später in jene der bosnischen Serben überzutreten. Civikov sieht in Erdemovic einen Söldner. Denn die 10. Sabotageeinheit der bosnisch-serbischen Armee, zusammengesetzt aus Kroaten, Slowenen und Serben, sei nichts anderes als eine Söldnertruppe gewesen. Die Befehlsgewalten in dieser Einheit blieben völlig unklar. Auch hier redete sich der Kronzeuge laut Civikov oftmals in einen Strudel. Erdemovic selbst bekannte sich jedenfalls vor dem Haager Tribunal zu “pazifistischen Überzeugungen”.

“Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung haben beim Jugoslawien-Tribunal nicht die höchste Priorität”, stellt der Autor in seinem Schlusswort fest. Wie sollte man sich sonst erklärten, dass die Geschichte von Erdemovic “mit all ihren offensichtlichen Widersprüchen und Ungereimtheiten als zuverlässige Basis für ein unglaublich mildes Urteil akzeptiert worden ist, um sie dann als Beweisstück in mehreren anderen Verfahren des Tribunals zu verwenden?” Civikov geht davon aus, dass in Den Haag “hinter der Kulisse einer unabhängigen internationalen Strafjustiz politische Interessen im Spiel” seien.

“Mütter von Srebrenica” kündigen Klage wegen Genozidleugnung an

Dass das Buch, das mehr Fragen stellt als beantwortet, für hitzige Debatten sorgen wird, ist schon jetzt klar. Die Vereinigung “Mütter von Srebrenica” kündigte bereits vor dem Erscheinen des Buches eine Klage gegen Herausgeber und Autor an. Die Vereinigung wirft ihnen laut bosnischen Medienberichten “Leugnung des Genozids” in Srebrenica vor.

Kontrovers und provokant ist manche Behauptung, die der in Bulgarien geborene und seit Jahren in den Niederlanden lebende Autor Germinal Civikov in seinem neuen Buch “Srebrenica. Der Kronzeuge” aufstellt. Doch gab es bei der Diskussion anlässlich seiner Präsentation am Dienstagabend in Wien neben Empörung und Unmut auch einen gemeinsamen Nenner: Die Kritik am UNO-Tribunal in Den Haag, vor allem an seiner Politisierung.

 

“Die Hoffnung, dass das Tribunal zur Wahrheitsfindung beiträgt, ist schwer erschüttert”, formulierte beispielgebend der Politologe Walter Manoschek von der Universität Wien. Statt die “Menschenrechte” zu vertreten, sei es vielmehr “der verlängerte Arm der Politik”. Zwar seien einige Schlussfolgerungen des Buches durchaus diskussionswürdig, doch mache es auch klar, “dass das, was in Den Haag abläuft, mit einem normalen Gerichtshof nichts zu tun hat”, so Manoschek.

Heftige Ablehnung des Buchs durch Bosniaken

Konkret zeigt der Autor auf, dass das Tribunal niemals Interesse an der Festnahme oder Einvernahme von sieben mutmaßlichen Kriegsverbrechern gezeigt habe, die vom Kronzeugen Drazen Erdemovic als Mittäter an der Ermordung von bis zu 1200 bosniakischen Zivilisten auf der Branjevo-Farm nördlich von Srebrenica im Juli 1995 gezeigt habe. Für Manoschek müsse nun die Frage gestellt werden: “Warum passiert das, welche Absicht steckt dahinter?”

Kontroversiell wird die Sache freilich durch den Umstand, dass Civikov auch die Anzahl der auf der Farm erschossenen Menschen in Frage stellt. 1200 Menschen in fünf Stunden auf die vom Kronzeugen Erdemovic geschilderte Art und Weise zu erschießen, sei unmöglich. Obwohl er auch festhielt, “dass es in Srebrenica Massenmord gegeben hat”, rief diese Feststellung unter einem Großteil des Publikums – darunter viele Bosniaken – heftige ablehnende Reaktionen hervor. Damit würden die Verbrechen von Srebrenica unzulässig relativiert, lautete der Tenor der Proteste.

Auch dem Soziologen Christoph Reinprecht fiel es schwer, die Argumentation des Autors zu akzeptieren. Er müsse leider feststellen, dass das Buch in die Hände revisionistischer Kräfte spiele, meinte Reinprecht im Rahmen der von APA-Außenpolitik-Redakteur Zarko Radulovic geleiteten hitzigen Debatte.

Civikov: “Was dürfen wir nicht wissen?”

Manoschek versuchte selbst diese Frage auf eine sachliche Ebene zu bringen: “Ich denke schon, dass man über Zahlen und Formulierungen streiten kann. Zahlen sind immer ein Politikum.” Das Haager Tribunal mache aber zu wenig dafür, um offene Fragen aufzuklären, sondern leiste vielmehr dem politischen Verwirrspiel Nachschub. Manoschek nahm in diesem Zusammenhang aber auch die Medien in die Pflicht. Obwohl genügend Material des Tribunals sogar im Internet abrufbar sei, würde auf diese “Widersprüche, die einsehbar sind”, nicht eingegangen.

Reinprecht wiederum kritisierte, dass auch Civikov Raum für weitere Spekulationen Tür und Tor öffne, statt zur Aufklärung beizutragen. So werde in dem Buch beispielsweise auch eine mögliche Verstrickung des französischen Geheimdienstes in die Verbrechen erwähnt, einer wichtigen Frage aber nicht nachgegangen: “Wie spielt das eine mit dem anderen zusammen?” Der Autor selbst beharrte darauf, wichtige Fragen gestellt zu haben: “Der Casus ist vielsagend: Was dürfen wir nicht wissen? Ich hab den Eindruck, dass wir etwas nicht wissen sollen.”

Srebrenica: 8000 Tote innerhalb von fünf Tagen

Der von bosnisch-serbischen Truppen verübte Massenmord ereignete sich im Juli 1995 in der damaligen UNO-Schutzzone Srebrenica. Ihm fielen insgesamt rund 8.000 bosniakische (muslimische) Männer, Burschen und Buben zum Opfer. Es gilt als das größte Massaker in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Der oberste Befehlshaber der bosnischen Serben, Ratko Mladic, ist nach wie vor flüchtig. Der politische Anführer, Radovan Karadzic, wurde im vergangenen Sommer in Belgrad gefasst und an das Tribunal Den Haag überstellt.

 

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