Gewessler stimmte gegen ÖVP-Willen für EU-Renaturierungsgesetz

Das Kanzleramt kündigte daraufhin eine Nichtigkeitsklage beim EuGH als fix an.
"Verfassung gilt auch für Klimaschützer"
Gewessler hat mit ihrem Ja eine veritable Koalitionskrise ausgelöst. "Österreich wird Nichtigkeitsklage beim EuGH einbringen", teilte die Sprecherin von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) der APA nach der Abstimmung mit. "Das Votum von Bundesministerin Gewessler entspricht nicht dem innerstaatlichen Willen und konnte daher nicht verfassungskonform abgegeben werden." Diese Entscheidung gelte es dann abzuwarten. "Wir gehen davon aus, dass der EuGH so rechtzeitig entscheiden wird, dass eine Vorlage von nationalen Wiederherstellungsplänen vorab nicht notwendig sein wird und damit die nicht notwendige Überregulierung unwirksam bleibt." Klimaschutz sei ein wichtiges Anliegen und die Bundesregierung habe in vielen Bereichen wesentliche Maßnahmen gesetzt, hieß es in der Stellungnahme. "Klar ist aber auch: Die Verfassung gilt auch für Klimaschützer. Niemand steht über dem Recht." Formal einbringen wird die Klage laut Kanzleramt Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP).
Gewessler sieht "Sieg für die Natur"
"Die heutige Entscheidung ist ein Sieg für die Natur", sagte Gewessler unterdessen in einer ersten schriftlichen Reaktion nach der Abstimmung. "Heute senden wir aus Luxemburg (wo der EU-Umweltrat stattfinden; Anm.) ein Signal - so dürfen wir nicht weitermachen. Unsere Natur hat sich unseren Schutz verdient."

"Mein Gewissen sagt mir unmissverständlich: wenn das gesunde und glückliche Leben künftiger Generationen am Spiel steht, braucht es mutige Entscheidungen. Deshalb habe ich heute für dieses Naturschutzgesetz gestimmt", hielt Gewessler weiter fest. Die Europäische Union stelle sich "geeint hinter den Schutz unserer Lebensgrundlage". Das Renaturierungsgesetz sichere Zukunft: "Wir geben der wunderbaren Artenvielfalt in unserer Heimat den Platz, der ihr zusteht. Wo früher ein lebendiger Bach war, ist heute ein betonierter Kanal. Wo früher eine wilde Blumenwiese war, finden wir heute nur mehr eine Betonwüste."
Kogler ortet "historisches Ja"
Rückendeckung erhielt Gewessler von ihrem Parteikollegen und Vize-Kanzler Werner Kogler. "Es ist ein historisches Ja zum aktuell weltweit wichtigsten Naturschutzvorhaben", teilte er per Aussendung mit. "Ich danke Leonore Gewessler und dem grünen Team für die Zielstrebigkeit, die Entschlossenheit und den entscheidenden Schritt, der heute gegangen wurde."
In einem Brief an die belgische Regierung bedauerte Kogler zudem, dass die EU nun in österreichische innenpolitische Streitigkeiten verwickelt wurde. Die in einem Schreiben des österreichischen Bundeskanzlers erhobenen Vorwürfe seien aber "falsch und spiegeln nicht die österreichische Rechtslage wider". Der Bundeskanzler habe kein Weisungsrecht gegenüber den österreichischen Vertretern im Umweltministerrat.
EU-Renaturierungsgesetz: Unklarheit bis zuletzt
Bis zuletzt war unklar, ob die nötige qualifizierte Mehrheit (55 Prozent der EU-Länder, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren) zustande kommt. Am Ende stimmten 20 Länder dafür, deren Bevölkerung in Summe 66,07 Prozent der gesamten EU-Bevölkerung ausmachen. Hätte Österreich sich also enthalten oder dagegen gestimmt, wäre keine Mehrheit für das EU-Gesetz zustande gekommen. Italien, Ungarn, Polen, Finnland und Schweden stimmten dagegen. Belgien enthielt sich. Nachdem das EU-Parlament bereits für die Verordnung gestimmt hatte, kann das Renaturierungsgesetz im Prinzip nun in Kraft treten.
Der belgische EU-Ratsvorsitzende Alain Maron (belg. Grüne) sagte vor dem heutigen Treffen noch, dass man die Möglichkeit eines Votums legal überprüft habe. "Auf unserer Seite wird vom anwesenden Minister im Raum abgestimmt, so läuft das ab", antwortete er auf eine Frage zu Nehammers Ankündigung einer Klage vor dem EuGH. "Für den Rest ist das eine innerösterreichische Kontroverse, die mich nichts angeht."
"Es ist ein ausgewogener, ein starker Kompromiss zustande gekommen, der die Interessen der Landwirtschaft berücksichtigt", begründete die deutsche Umweltministerin Steffi Lemke ihre Zustimmung im Rat.
Zustimmung kam auch von dem SPÖ-EU-Abgeordneten Günther Sidl. "Wir als SPÖ haben im EU-Parlament dafür gestimmt und Wien und Kärnten haben der Ministerin bereits vor Wochen den Weg zur Zustimmung geebnet", meint Sidl in einem Presseschreiben. Kritik übte er an der ÖVP: "Konstruktive Umwelt- und Europapolitik lassen seit Jahren auf sich warten, als einziger Mitgliedstaat ohne nationalen Klimaplan ist Österreich Schlusslicht."
Ludwig zeigte sich erfreut von Gewesslers Schritt
Wiens Bürgermeister und Landeshauptmann Michael Ludwig (SPÖ) zeigte sich ebenfalls erfreut über den Schritt der Ministerin - äußerte aber zugleich Sorge um das Ansehen des Landes. "Es wäre natürlich besser, wenn die Bundesregierung in so einer wichtigen Frage an einem Strang zieht. Das Bild, welches die Bundesregierung heute abgegeben hat, schadet der Reputation Österreichs innerhalb der Europäischen Union", befand er in einem "X"-Posting. Ludwig hatte mit seinem Schwenk in Richtung Zustimmung zur Verordnung den Anlass für die Neubewertung der Länder-Stellungnahmen gegeben.
Der österreichische Bauernbund sprach hingegen von einem "beispiellosen Alleingang". Gewessler habe "entgegen einer einheitlichen Stellungnahme der Bundesländer für das höchst umstrittene Renaturierungsgesetz gestimmt". "Das beschlossene EU-Renaturierungsgesetz wird zu massiven Einschnitten und unverhältnismäßig negativen Auswirkungen für die Landwirtschaft führen. Aber auch die Konsumenten werden die Folgen deutlich spüren. 20 Prozent aller Flächen müssen laut dem Gesetz allein bis 2030 wiederhergestellt werden. Das bedeutet im Klartext: Ein Fünftel der Gesamtfläche Österreichs darf nicht mehr wie bisher genutzt werden", so Bauernbund-Präsident Georg Strasser.
Auch die Landwirtschaftskammer Österreich kritisierte das Vorgehen. "Abgesehen davon, dass das Abstimmungsverhalten von Bundesministerin Gewessler laut Verfassungsdienst rechtswidrig ist, können wir das Gesetz auch aus fachlicher Sicht keinesfalls gutheißen", betonte Präsident Josef Moosbrugger. "Umweltnutzen mehr als zweifelhaft, enorme Mehrbelastung für die Bäuerinnen und Bauern und noch dazu eine vollkommen ungeklärte Übernahme der Kosten von 154 Mrd. Euro, die laut EU-Kommissionsschätzung mindestens anfallen werden. Was gut klingt, ist nicht unbedingt gut", so Moosbrugger.
EU-Renaturierungsgesetz Teil von "Green Deal"
Das EU-Renaturierungsgesetz (Nature Restoration Law) ist ein zentraler Teil des umfassenden Klimaschutzpakets "Green Deal", mit dem die EU bis 2050 klimaneutral werden soll. Das übergeordnete Ziel ist die langfristige und nachhaltige Wiederherstellung biologisch vielfältiger und widerstandsfähiger Ökosysteme. Das bedeutet unter anderem aufgeforstete Wälder, wiedervernässte Moore sowie natürlichere Flussläufe und infolge den Erhalt der Artenvielfalt.
Der ursprüngliche Vorschlag der EU-Kommission vom Juni 2022 stieß auf viel Kritik. In den Verhandlungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und dem Europaparlament wurde die Verordnung aber abgeschwächt und den EU-Ländern wesentlich mehr Flexibilität bei der Umsetzung eingeräumt. Trotzdem schwenken einige Staaten trotz Kompromiss unter dem Eindruck von Bauernprotesten und der EU-Wahl um. Dadurch war bis zunächst unklar, ob die nötige Mehrheit im Rat der EU-Staaten zustande kommen würde.
Greenpeace sieht "Meilenstein"
Sehr erfreut über die Zustimmung zum EU-Renaturierungsgesetz von Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) haben erwartungsgemäß die großen Umwelt-NGOs reagiert. Greenpeace sprach am Montag in einer Aussendung von einem "Meilenstein", der WWF sah einen "historischen Fortschritt" und Global 2000 ein "wichtiges Werkzeug im Kampf gegen die Biodiversitätskrise und die Klimakrise". Auch der Alpenverein ortete ein "starkes Zeichen für unsere Natur".
"Umweltministerin Gewessler hat volle ökologische Verantwortung übernommen und so das wichtigste Naturschutzgesetz überhaupt für Europa möglich gemacht. Das ist eine großartige Nachricht für unsere Natur, zahllose bedrohte Arten und unsere Zukunft", sagte Greenpeace-Sprecherin Ursula Bittner. Der ÖVP warf Bittner vor, dass Bundeskanzler Karl Nehammer und die ÖVP-Bundesländer versuchen würden, "auf Biegen und Brechen und gegen den Willen der Menschen in Österreich Naturschutz zu verhindern".
"Großer Sieg für die Natur"
"Das ist ein großer Sieg für die Natur und ein Gewinn für uns alle: Denn intakte Ökosysteme sind unsere besten Verbündeten gegen die Folgen der Klima- und Biodiversitätskrise", sagte WWF-Programmleiterin Hanna Simons. "Umweltministerin Leonore Gewessler hat mit ihrem Ja gemeinsam mit vielen anderen Staaten eine qualifizierte Mehrheit ermöglicht und das Gesetz damit gerettet. Das verdient höchste Anerkennung und Respekt", so Simons weiter. Mit einer guten nationalen Umsetzung werde die EU-Verordnung "die Artenvielfalt erhöhen, den Klimaschutz fördern und die Ernährungssicherheit Europas langfristig stärken".
Die Umweltschutzorganisation Global 2000 begrüßte, "dass Umweltministerin Gewessler heute Verantwortung übernommen hat und den Beschluss des Gesetzes möglich machte", so Umwelttechniker Helmut Burtscher-Schaden. Über 80 Prozent der europäischen Lebensräume seien derzeit in schlechtem Zustand. "Bei der Wiederherstellung der Natur geht es nicht nur um Tiere und Pflanzen. Grundlegende Prozesse wie gesunde Böden, Klima, Wasser- und Nährstoffkreisläufe hängen von der biologischen Vielfalt ab. Intakte Ökosysteme sind eine wichtige Voraussetzung, um die Folgen der Klimakrise abfedern zu können", sagte Burtscher-Schaden.
Der Umweltdachverband sprach wiederum von einer "richtigen und wichtigen Entscheidung", die einen Wendepunkt für die "ökologische Abwärtsspirale in Europa" bedeuten könne. "Das gemeinsame Ergebnis liefert zentrale Zielvorgaben zur Erholung der Natur, bietet für die Mitgliedstaaten aber auch ausreichend Freiraum und Finanzierungshilfe für eine praxisgerechte Umsetzung", reagierte Franz Maier, Präsident des Umweltdachverbandes. Jetzt gelte es, "den Auftrag zur Rettung der Natur in einen nationalen Wiederherstellungsplan zu übersetzen".
ÖAV begrüßt Beschluss von EU-Renaturierungsgesetz
Auch der einst der ÖVP nicht gerade fernstehende Österreichische Alpenverein (ÖAV) begrüßte den Beschluss des umstrittenen Gesetzes. "Das Renaturierungsgesetz ist ein 'Gipfelsieg' auch für alpine Naturräume", sagte Präsident Wolfgang Schnabl in einer Aussendung und sprach von einer "verantwortungsbewussten Entscheidung" auf EU-Ebene. Die Alpen beherbergen eine "einzigartige Vielfalt an Pflanzen und Tierarten", deren Verlust treibe die Biodiversitätskrise "drastisch voran." Für Liliana Dagostin, Naturschutzexpertin des Alpenvereins, verleihe erst das Gesetz dem "europäischen Green Deal ein Herz und eine Seele."
(APA/Red)