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Gespenstische Europaschau bei Wiener Festwochen

Die europäische Einigung ist Geschichte - gut gemeint, doch schlecht umgesetzt. Rezession und Nationalismus haben der EU den Garaus gemacht. Dieses bedrückende, weil gar nicht unrealistisch wirkende Szenario ist seit heute in einer ebenso intelligenten wie gespenstischen Ausstellung zu besichtigen: "Das Haus der europäischen Geschichte im Exil" ist bis zum Ende der Wiener Festwochen geöffnet.


Es ist ein perfektes Szenario, das einen in der ehemaligen Unternehmenszentrale der Post in der Wiener Innenstadt erwartet und das man keinesfalls versäumen sollte. In den leer stehenden Zimmerfluchten, Gängen und Sälen, deren konkrete frühere Nutzung oft nur zu erahnen ist, hat ein historisches Museum seine verstaubte Ausstellung aufgebaut. Mit antiquierten Schautafeln, Statistiken und Infografiken, mit Dokumenten, Fotos und Objekten wird an den Aufstieg und Fall des vereinten Europa erinnert. Wir befinden uns in der Zukunft, soviel ist bald klar, irgendwann nach einer letzten Erweiterung, die 2017 die West-Ukraine und Schottland zum 32. und 33. Mitgliedsland der Europäischen Union gemacht hat.

Niemand interessiert sich noch für einen Rückblick auf ein einstiges politisches Hoffnungsprojekt, auf das sich längst dick der Staub der Geschichte gelegt hat. Besucher werden in Fünf-Minuten-Abständen eingelassen und müssen sich ganz allein ihren Weg durch den menschenleeren Ausstellungsparcours bahnen. Das wirkt zusätzlich beklemmend. Zahlreiche Infotafeln machen in einer Esperanto-ähnlichen Kunstsprache (aber auch auf Deutsch, Englisch und Französisch) mit einer Geschichte vertraut, die für heutige Besucher in manchen Aspekten noch in der Zukunft liegt.

So erfährt man etwa, dass 2015 in Brüssel jenes Haus der Europäischen Geschichte eröffnet wurde, das nach dem Zerfall der EU einen Exilstandort beziehen musste, dass 2016 auch Mazedonien, Montenegro und Serbien in die EU aufgenommen wurden, dass Jean-Claude Juncker 2014-17 als Kommissionspräsident wirkte, danach von einer Litauerin abgelöst wurde, und der Brite Stephen Hughes 2018 als letzter Kommissionspräsident in die Geschichte einging.

Der Grundkurs in europäischer Geschichte hält nicht nur einiges an Schauwerten und Skurrilitäten parat – so bohrt sich einmal ein Aktenstoß durch die Zimmerdecke oder wird ein ganzer Raum mit Vitrinen, in denen Visitenkarten von in Brüssel tätigen Lobbyisten ausgestellt sind, bespielt -, sondern lässt einen gelegentlich dabei ertappen, zwischen Fakt und Fiktion nicht auseinanderhalten zu können. Eine Fahne griechischer Faschisten ist wohl nicht echt, denn sie ist als aus 2015 stammendes Ausstellungsstück ausgewiesen. Aber wie verhält es sich mit einem FPÖ-Plakat, auf dem H.C. Strache konstatiert “Österreich denkt um – zu viel EU ist dumm”?

Mit einer nachgebauten Unterkunft für Erntehelfer im spanischen Almeria wird man auf dramatische Ungleichheiten am Lohn- und Arbeitsmarkt hingewiesen, mit Grenzwächter-Puppen auf den beschämenden Umgang der EU mit Migranten, ehe man langsam damit vertraut gemacht wird, dass der Euro der Anfang vom Ende des gemeinsamen Europas war und eine 2017 beschlossene Steuerunion von Historikern nur noch als Verzweiflungsakt gesehen wird. Ein konkretes Zerfallsszenario verweigert die Schau. Stattdessen gelangt man in einen völlig abgedunkelten Raum, in dem durch ein kleines Fenster ein Lichtstrahl auf den Boden fällt. Dort berichtet ein Thomas auf handgeschriebenen Seiten einem Freund vom Aufbau der eben durchschrittenen Ausstellung. Sie sei auch als Denkmal, als Erinnerung an jene Menschen zu verstehen, die der falsche Kurs, den das Projekt Europa eingeschlagen habe, das Leben gekostet habe.

Der Mensch, von dem hier die Rede sei, war der Vater eines Freundes, erläutert der freundliche Barkeeper, der in der anschließenden Cafeteria die Besucher mit Zuspruch und Hochprozentigem versorgt. Dieser Vater sei ein kleiner Tomatenbauer gewesen und habe sich, jeder wirtschaftlichen Überlebenschance beraubt, schließlich umgebracht. Der Barmann ist der unterzeichnete Thomas, der belgische Theatermacher Thomas Bellinck nämlich, der sich sehr über den APA-Reporter als allerersten Ausstellungsbesucher freut. Bereitwillig gibt er Auskunft.

“Das Haus der europäischen Geschichte im Exil” hat er 2013 im Europaviertel von Brüssel das erste Mal aufgebaut, danach in Rotterdam gezeigt und nun für Wien adaptiert. Besonders schwierig sei “das Spielen mit Realität und Fiktion”, erzählt Bellinck. Auf das Gelingen dieser Gratwanderung komme es an: “Ich wollte ja keine reine Science-Fiction machen.” Besonders wichtig sei ihm, dass die Besucher einzeln durch die Ausstellung gehen müssten: “Sobald man miteinander reden kann, verändert sich die Situation komplett.” Konzentration und Betroffenheit machten in der Gruppe leicht einem Ironisieren und Amüsieren Platz. Das wolle er aber vermeiden.

Dafür hat sich Thomas Bellinck als Barmann am Ende perfekt in seine Inszenierung eingebaut. “Die meisten Besucher kommen bedrückt aus der Ausstellung. Die Schnäpse sind immer besonders rasch weg. Die meisten Leute wollen reden. Und manchmal werden sie dann hellhörig, weil der Barmann so viel über Europa weiß…”

(S E R V I C E – “Das Haus der europäischen Geschichte im Exil”, Konzeption und Realisation: Thomas Bellinck, Dramaturgie: Sebastien Hendrickx, Design-Coach: Stef Stessel, Gastspiel bei den Wiener Festwochen, Ausstellung in der ehemaligen Unternehmenszentrale der Post, Wien 1, Postgasse 10. Bis 15. Juni, Mittwoch bis Freitag jeweils 15 bis 20 Uhr, letzter Einlass: 18.30 Uhr, Samstag bis Sonntag jeweils 11 bis 20 Uhr, letzter Einlass: 18.30 Uhr, Anmeldung erbeten unter 0664 / 22 589 47;)

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