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Friedensverhandlungen in Istanbul als Balanceakt für Erdogan

Türkei sieht sich schon länger als Vermittler zwischen Moskau und Kiew.
Türkei sieht sich schon länger als Vermittler zwischen Moskau und Kiew. ©Ukrainian Presidential Press Service/Handout via REUTERS
Rund viereinhalb Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine haben beide Seiten in Istanbul erneut über einen Weg zum Frieden diskutiert.
Militär-Aktivität bei Kiew wird reduziert

Die Worte des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan klingen eindringlich: "Als Mitglieder der Delegation haben Sie eine historische Verantwortung übernommen", sagte er, bevor sich die Delegationen aus Russland und der Ukraine zu bilateralen Gesprächen zurückziehen. Er lässt dabei seinen Blick über die Verhandler schweifen.

Annährung zwischen Ukraine und Russland bei Gesprächen

Und tatsächlich schien es am Dienstag eine Annäherung zu geben. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sprach sogar von dem "bedeutendsten Fortschritt" seit Beginn der Verhandlungen.

Die Türkei versucht, eine Brücke zwischen den Konfliktparteien zu schlagen. Das NATO-Land ist Schwarzmeer-Anrainer und pflegt enge Beziehungen zu Russland und zur Ukraine. Erdogan bemüht sich immer wieder um Vermittlung. Er hat regelmäßigen Kontakt mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Kremlchef Wladimir Putin, wie er unermüdlich betont. Die Rolle könnte Erdogan außen- und innenpolitisch nutzen - sie birgt aber auch Risiken.

Tükei mit Verbindungen zu Russland und der Ukraine

Die Verbindungen der Türkei zu beiden Ländern sind vielschichtig. An Kiew liefert Ankara etwa Kampfdrohnen. Von Russland ist die Türkei, wie viele europäische Staaten auch, wirtschaftlich abhängig. 2020 stammten fast 34 Prozent der Gasimporte - aber auch rund 65 Prozent der Weizenimporte aus Russland. Hinzu kommen sicherheitspolitische Interessen der Türkei im Nachbarland Syrien. Dort unterstützen Ankara und Moskau unterschiedliche Konfliktparteien.

Erdogan taktiert daher vorsichtig. Er verurteilt den Angriffskrieg Russlands, beteiligt sich aber nicht an Sanktionen. Er fordert Russland zum Abzug auf, kritisiert aber auch den Westen. Beispielhaft lässt sich das am Umgang mit der Meerenge Bosporus sehen. Die Türkei wendet dort den Vertrag von Montreux an, ein internationales Abkommen. Sie muss deshalb die Durchfahrt von Kriegsschiffen der Konfliktparteien, also auch von russischen, beschränken. Ankara setzt das vorsichtig um, achtet aber darauf, Russland nicht zu brüskieren.

Türkei mit Kurswechsel in der Außenpolitik

Außenpolitisch beschleunigt sich durch den Ukraine-Krieg eine Kurskorrektur Ankaras, die sich schon länger abzeichnet: Weg von der Isolation, hin zur Annäherung. Spitzenpolitiker aus Israel, Griechenland und Armenien waren in den letzten Wochen in der Türkei, obwohl die Beziehungen zu den Ländern bisher als schwierig galten.

Auch US-Präsident Joe Biden, dem ein schwieriges Verhältnis zu Erdogan nachgesagt wird, würdigte in einem Telefonat die Vermittlungsversuche des türkischen Präsidenten. Das Verhältnis zu den USA ist seit langem belastet, unter anderem, weil die Türkei von Russland das Raketenabwehrsystem S-400 gekauft hatte.

Erdogans Umfragewerte derzeit auf dem Tiefpunkt

Von seinen außenpolitischen Bemühungen könnte Erdogan daher auch im eigenen Land profitieren. Er trifft mit der neutralen Haltung im Ukraine-Krieg den Nerv seines Volkes, bei dem er zunehmend an Beliebtheit einbüßt. Laut einer Umfrage des Instituts Metropoll unterstützen rund 73 Prozent der Befragten, dass sich Ankara in dem Konflikt auf keine Seite stellt.

Erdogans Umfragewerte liegen zurzeit unter anderem wegen einer Währungskrise auf dem Tiefpunkt. Die Teuerung von Lebensmitteln und Energie dominierte schon vor dem Ukraine-Krieg die Agenda - Bilder von Menschen, die für günstiges Brot anstehen, kursierten in sozialen Medien. Der Diplomatie-Marathon scheint eine willkommene visuelle Ablenkung. Erdogans Mitarbeiter verbreiten unermüdlich Fotos, die den Präsidenten händeschüttelnd mit internationalen Politikern zeigen.

Erdogan hoffe, durch die internationale Annäherung, das Klima für Auslandsinvestitionen zu verbessern, damit diese ihm dabei helfen, die Präsidenten- und Parlamentswahlen 2023 zu gewinnen, schrieb Analyst Murat Yetkin kürzlich. Das sei jedoch angesichts der belasteten Weltwirtschaft ein schwieriges Unterfangen.

Erdogan agiert dabei pragmatisch. Am Freitag ermutigte er ausländische Firmen, die sich aus Russland zurückgezogen haben, sich in der Türkei anzusiedeln. EU-Botschafter Nikolaus Meyer-Landrut wertete die Rolle Ankaras zwischen NATO-Partner und Kritiker des Westens kürzlich als Spagat, den die Türkei nicht auf Dauer durchhalten könne.

(APA/Red)

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