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"Freedom Day": England hebt fast alle Corona-Maßnahmen auf

Boris Johnson will auf Eigenverantwortung setzen.
Boris Johnson will auf Eigenverantwortung setzen. ©APA/AFP/JUSTIN TALLIS
In England werden am heutigen "Freedom Day" fast alle Corona-Maßnahmen wieder aufgehoben. Premier Boris Johnson setzt auf Eigenverantwortung - Experten warnen. Auch in London will man einen strengeren Kurs weiterfahren.

Trotz Warnungen von Wissenschaftern und Opposition hat die britische Regierung fast alle Corona-Beschränkungen für England aufgehoben. In der Nacht auf Montag trat der Beschluss in Kraft, wodurch etwa die Maskenpflicht und Abstandsregeln wegfielen. Auch Diskotheken dürfen wieder öffnen, Theater und Sportstadien sämtliche Plätze besetzen. Die Empfehlung zum Home-Office wurde ebenso aufgehoben. Experten befürchten angesichts steigender Fallzahlen eine neue große Corona-Welle.

Premierminister Boris Johnson, der die Regeln für den größten britischen Landesteil macht, setzt hingegen voll auf die Erfolge der weit fortgeschrittenen Impfkampagne und die Eigenverantwortung der Menschen. Inzwischen haben 88 Prozent der Erwachsenen im Vereinigten Königreich eine erste Impfung erhalten. Knapp 68 Prozent sind bereits zweimal geimpft. Doch Experten warnen, dass die Situation trotz der hohen Impfquote außer Kontrolle geraten könnte. Bereits jetzt werden täglich zum Teil mehr als 50.000 Fälle registriert - beinahe so viele wie zum Höhepunkt der zweiten Welle zum Jahreswechsel.

Strikter Corona-Kurs in London

Ausnahmen gelten in London, wo Bürgermeister Sadiq Khan von der Labour-Partei einen strikteren Corona-Kurs beibehalten will als die Zentralregierung. Auch in den in der Gesundheitspolitik eigenständigen Provinzen Wales und Schottland bleiben die bisherigen Restriktionen zunächst bestehen.

Die Regierung des konservativen Premierministers Boris Johnson hatte den hochumstrittenen Öffnungsschritt mit der hohen Impfquote im Land begründet. Mehr als zwei Drittel der Erwachsenen sind bereits vollständig geimpft.

"Freedom Day" in England

Am Vortag des "Tags der Freiheit" verteidigte Johnson den Öffnungsschritt in einer auf Twitter veröffentlichten Videobotschaft. "Wenn wir es jetzt nicht tun, müssen wir uns fragen, wann wir es jemals tun werden", sagte der Regierungschef. "Dies ist also der richtige Moment, aber wir müssen es vorsichtig angehen."

Bereits jetzt breitet sich die hochansteckende Delta-Variante des Coronavirus in Großbritannien stark aus. Zuletzt überschritt die Zahl der täglichen Neuinfektionen die Marke von 50.000.

Deutlich weniger Todesfälle

Großbritannien verzeichnet inzwischen zwar deutlich weniger Todesfälle als in früheren Corona-Wellen. Dennoch würde ein starkes Ansteigen der Fallzahlen nach Angaben von Medizinern den Gesundheitsdienst NHS unter Druck setzen. Derzeit werden rund 550 Covid-19-Patienten auf der Intensivstation behandelt. Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle im Jänner waren es mehr als 4.000.

Die Entscheidung der Regierung ist stark umstritten. Der gesundheitspolitische Sprecher der oppositionellen Labour-Partei, Jonathan Ashworth, sprach von einem "rücksichtslosen" Vorgehen. "Wir sind gegen Öffnungen, ohne dass es Vorsichtsmaßnahmen gibt", sagte er der BBC.

100.000 Corona-Neuinfektionen pro Tag erwartet

Experten zweifeln daran, ob der Schutz durch die Impfungen ausreichen wird, um einer großen Infektionswelle standzuhalten. Dem Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College in London zufolge ist es "beinahe unausweichlich", dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen die Marke von 100.000 bald überschreitet. "Die echte Frage ist, ob es sogar doppelt so viel wird, oder sogar noch mehr", sagte Ferguson der BBC am Sonntag. Im schlimmsten Fall, wenn die Zahl der Krankenhauseinweisungen 2.000 oder 3.000 täglich erreiche, müssten Maßnahmen ergriffen werden, um die Pandemie wieder in den Griff zu kriegen, warnte er.

Die Entscheidung der Regierung sei von "moralischer Leere und epidemiologischer Dummheit" geprägt, sagte auch der Gesundheitsexperte Gabriel Scally von der Universität Bristol.

Verschärfungen in Israel und den Niederlanden

Kritik an der Regierung kam auch aus den eigenen Reihen. Downing Street sollte von Israel und den Niederlanden lernen, sagte der konservative Abgeordnete und ehemalige Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Die beiden Länder hatten angesichts eines Anstiegs der Infektionsfälle Lockerungen wieder rückgängig machen müssen. "Die Warnleuchte auf dem Armaturenbrett des NHS blinkt nicht gelb, sie blinkt rot", sagte er der BBC.

Eine der Regeln, die in Kraft bleiben, ist die verpflichtende Selbstisolation nach Kontakt zu einem Infizierten. Dies betrifft auch Johnson und Finanzminister Rishi Sunak, die Kontakt zu dem an Corona erkrankten Gesundheitsminister Sajid Javid hatten.

Ein Regierungssprecher hatte zunächst erklärt, dass die Politiker nur in Teil-Quarantäne müssten - ihrer Arbeit in der Downing Street dürften sie weiterhin nachgehen. Nach einem Sturm der Entrüstung machten beide jedoch eine Kehrtwende und erklärten, sie würden die Quarantäne vollständig einhalten.

(APA/red)

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