Frauen sind zu "kompliziert": Wie gefährlich ist Medizin, die nur für Männer gemacht wurde?
Wenn Frauen an einem Herzinfarkt leiden, erkennen sie es oft nicht – und noch schlimmer: Nicht einmal ihre Ärzte tun es. "Frauen fühlen sich müde, abgeschlagen, haben Schmerzen im Rücken oder im Kiefer. Niemand denkt da im ersten Moment an einen Herzinfarkt", erklärt Christa Bauer im Gespräch mit VOL.AT.
Die klinische Psychologin ist bei "Femail" in der Fachstelle Frauengesundheit tätig und warnt: "Die Medizin hat jahrzehntelang den Mann als Maßstab genommen." Bauer deckt im Gespräch mit VOL.AT auf, wie gefährlich diese Einheitsmedizin sein kann: Herzinfarkte bleiben unerkannt, Medikamente wirken falsch, Prothesen passen nicht. Und das alles, weil Frauen jahrzehntelang in Forschung und Versorgung schlicht übersehen wurden.
Video: "Wir sind nicht alle gleich"
Gendermedizin: "Nicht nur ein Frauenthema"
"Gendermedizin ist nicht nur ein Frauenthema – es geht darum, dass alle Geschlechter richtig behandelt werden", betont Bauer. In der medizinischen Forschung, Lehre und Praxis sei diese Sichtweise aber nach wie vor kaum angekommen. "Im Studium ist Gendermedizin in Österreich meist nur Wahlfach. Außer in Innsbruck, da ist es verpflichtend", so Bauer.
Das hat Konsequenzen: Diagnosen werden verpasst, Medikamente falsch dosiert, Behandlungen nicht individuell angepasst. "Frauen haben zum Beispiel einen anderen Stoffwechsel. Medikamente werden langsamer abgebaut, sie brauchen oft geringere Dosierungen", erklärt sie.
Unterstellung der Dramatisierung bei Frauen: "Längere Wartezeiten in der Notaufnahme und weniger Schmerzmittel"
Kaum ein anderes Beispiel zeigt die Problematik so deutlich wie der Herzinfarkt: Während Männer oft mit klassischen Symptomen wie Brustschmerz und Schmerzen im linken Arm kommen, äußert sich ein Infarkt bei Frauen ganz anders. "Übelkeit, Müdigkeit, Oberbauch- oder Rückenschmerzen – das sind Symptome, die nicht sofort mit einem Herzinfarkt in Verbindung gebracht werden. Deshalb dauert es bei Frauen oft viel länger, bis sie behandelt werden."
Außerdem: "Studien zeigen, dass Frauen in der Notaufnahme länger warten müssen und seltener Schmerzmittel bekommen – bei gleicher Schmerzangabe", sagt Bauer. Der Grund? Veraltete Geschlechterstereotype. Frauen würde schneller unterstellt werden, dass sie dramatisieren.
Endometriose: "So häufig wie Diabetes, aber in der Forschung völlig ignoriert"
Ein weiteres Beispiel ist die Endometriose – eine Krankheit, die zehn bis 15 Prozent aller Frauen betrifft, aber oft erst nach Jahren diagnostiziert wird. "Sie ist genauso häufig wie Diabetes – aber in der Forschung lange völlig ignoriert worden." Ein enormer Gegensatz zur Diabetes-Forschung, die weit fortgeschritten ist.
Auch psychische Erkrankungen treffen die Geschlechter unterschiedlich. "Frauen erkranken häufiger an Depressionen – Männer zeigen aber oft andere Symptome, etwa Aggressivität oder Suchtverhalten. Das wird zu selten erkannt und bleibt unbehandelt."
Besonders betroffen sind junge Frauen auch von Essstörungen. "Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie kommen deutlich häufiger bei jungen Frauen vor", erklärt Bauer. "Sie stehen in starkem Zusammenhang mit einem ungesunden Schönheitsideal, das gesellschaftlich vermittelt wird." Dahinter steckt ein tiefer liegendes Problem: Die Rolle der Frau werde häufig noch über Aussehen und Körper gesehen – mit drastischen gesundheitlichen Folgen. "Auch hier sehen wir: Geschlechterrollen wirken sich direkt auf Krankheitsrisiken aus", schildert die klinische Psychologin.
Knieprothesen für Männer – in Frauenkörpern
"Lange Zeit wurden Hüft- und Knieprothesen auf Basis männlicher Körper entwickelt und dann Frauen eingesetzt", sagt Bauer. "Frauen brauchen andere Formen – das wird jetzt langsam erkannt."
Auch bei Blutdruckmedikamenten gebe es massive Unterschiede. "Frauen berichten häufiger über Nebenwirkungen. Oft liegt es nur an der Dosierung – aber sie setzen das Medikament dann eigenmächtig ab. Dabei müsste man nur individuell anpassen."

Der Ursprung des Problems: Frauen seien zu "kompliziert"
"Der Mann war der medizinische Standard, die Frau wurde als kleinerer Mann gesehen", sagt Bauer. Die Gründe? Wirtschaftlich und bequem: Frauen seien als Studienprobandinnen zu "kompliziert", wegen des Zyklus, möglicher Schwangerschaften – und Skandalen wie Contergan.
"Aber das darf kein Argument mehr sein", sagt sie deutlich. Eine EU-Verordnung von 2022 schreibt mittlerweile vor, dass Frauen und unterschiedliche Altersgruppen in Studien berücksichtigt werden müssen – geschlechtsspezifische Auswertung inklusive. Ein wichtiger Schritt, aber Bauer betont: "Es gibt noch viel zu tun."
Denn am Ende bleibt eine einfache Botschaft: "Wir sind nicht alle gleich – also dürfen wir auch nicht gleich behandelt werden."
Jährlicher Frauengesundheitstag: "Femail" will Sichtbarkeit schaffen
Die Fachstelle Frauengesundheit organisiert jährlich den Vorarlberger Frauengesundheitstag – heuer am 13. November zum Thema psychische Gesundheit. "Wir informieren, vernetzen Fachpersonen und holen Frauengesundheit aus der Unsichtbarkeit", erklärt Bauer. Auch Menstruation und Wechseljahre sollen endlich als ernsthafte Gesundheitsthemen anerkannt werden.
(VOL.AT)