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Explosion im Libanon: Was wir wissen - und was nicht

Was war der Auslöser? GIbt es einen politischen Hintergrund?
Was war der Auslöser? GIbt es einen politischen Hintergrund? ©STR / AFP / APA
Der Bürgermeister der Stadt Beirut spricht von Schaden in Milliardenhöhe. Laut dem Gouverneur des Bezirks haben bis zu 250.000 Menschen ihr Zuhause verloren.
Beirut nach der Explosion
Gewaltige Explosion am Hafen von Beirut
Beirut: Suche nach der Explosions-Ursache

Am Tag nach den verheerenden Explosionen am Hafen von Beirut bietet sich in der libanesischen Hauptstadt ein unfassbares Bild der Verwüstung: Die halbe Stadt ist ein Trümmerfeld, reihenweise wurden Häuser durch die Wucht der Detonation dem Erdboden gleich gemacht. Dutzende Tote, Tausende Verletzte, Hunderttausende obdachlos.

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Am Tag nach der Katastrophe sind noch viele Fragen offen.

Was wir wissen - und was nicht:

BEIRUT - WAS WIR WISSEN

- Der Ort: Die Explosion ereignet sich auf dem Industriegelände des Hafens im Norden der Küstenstadt. Dort entstehen an Lagerhäusern und Getreidespeichern auch die größten Schäden. In der Nähe liegen der zentrale Märtyrerplatz und beliebte Ausgeh-Viertel von Beirut.

- Die Explosion: Wenige Minuten nach 18 Uhr (Ortszeit, 17 Uhr MESZ) kommt es am Hafen zu einer gewaltigen Detonation mit einer Druckwelle, die sich blitzschnell kreisförmig nach außen ausbreitet. Am Himmel über der Küstenstadt ist eine Pilzwolke zu sehen.

- Die Wucht: Selbst auf der rund 200 Kilometer entfernt liegenden Insel Zypern sind die Explosion und die Druckwelle zu spüren. Viele Menschen glauben dort sowie in Beirut zunächst an ein Erdbeben. Das Erdbebenzentrum EMSC misst eine Erschütterung der Stärke 3,3.

- Die Opfer: Mindestens 100 Menschen kommen ums Leben und weitere 4000 werden verletzt, viele von ihnen durch Glassplitter von berstenden Fensterscheiben. Im Lauf der Suche nach Opfern, etwa unter Trümmern, könnte diese Zahl noch weiter steigen.

- Die Schäden: Die Wucht der Explosion lässt Trümmerteile in Wände einschlagen, teils stürzen Hausdächer ein. Straßen im Stadtzentrum sind mit Schutt und Glasscherben übersät. Autos und auch Schiffe werden beschädigt. Die Regierung geht in einer ersten Schätzung von Schäden in Höhe von drei bis fünf Milliarden US-Dollar aus.

BEIRUT - WAS WIR NICHT WISSEN

- Der Sprengstoff: Viele Hinweise deuten auf die Explosion einer großen Menge an Ammoniumnitrat hin. Von der gefährlichen Substanz, die schon mehrfach zu Explosionen mit teils Hunderten Toten führte, waren nach offiziellen Angaben seit mehreren Jahren 2750 Tonnen im Hafen gelagert. Bestätigt sind diese Hinweise aber noch nicht.

- Möglicher Hintergrund: Zunächst gibt es keine Hinweise auf einen möglichen politischen Hintergrund oder einen Anschlag. Ausgeschlossen ist dies aber noch nicht. Nur wenige Kilometer vom Ort der Explosion waren 2005 der damalige libanesische Ministerpräsident Rafik Hariri und 21 weitere Menschen bei einem Sprengstoffanschlag getötet worden.

- Der Auslöser: Möglicherweise wurde eine erste, kleinere Explosion an einem Lagerhaus für Feuerwerkskörper ausgelöst. Der Brand führte dann möglicherweise zur zweiten, gewaltigen Detonation. Auch hier gibt es aber noch keine Bestätigung. Unklar ist auch, ob es sich um einen Unfall oder eine absichtlich herbeigeführte Explosion handelt.

Was hinter der Riesenexplosion von Beirut stecken könnte

Eine Kombination aus Feuerwerkskörpern und dem Stoff Ammoniumnitrat hat womöglich die massive Explosion in Beirut ausgelöst. Dies legen zumindest Experten und Videos von dem Vorfall nahe. Das Ausmaß der Schäden - vom Zentrum der Explosion im Hafen der libanesischen Hauptstadt zu zerborstenen Fenstern in kilometerweiter Entfernung - ähnelt anderen Detonationen, die sich auf das vor allem für Düngerherstellung genutzte Ammoniumnitrat zurückführen lassen. Doch ganz von allein geht die Chemikalie nicht in die Luft, dafür bedarf es einer Zündquelle. Und die lieferte wahrscheinlich ein Feuer, das offenbar Feuerwerkskörper umzüngelte, die im Hafen gelagert worden waren.

Im Internet kursierende Videos vom Beginn des Desasters zeigen Funken und Lichter inmitten des aus dem Brand aufsteigenden Rauchs, ehe es kurz darauf zur Explosion kommt. Dies deute wahrscheinlich darauf hin, dass Feuerwerk im Spiel gewesen sei, sagt Boas Hajun, Eigentümer der israelischen Firma Tamar Group, die mit der israelischen Regierung eng in Sicherheits- und Zulassungsfragen rund um Sprengstoffe zusammenarbeitet. Neben den Funken nennt er in einem Gespräch der Nachrichtenagentur AP auch Geräusche wie aufgebackenes Popcorn sowie Pfeifen, die für Feuerwerkskörper typisch seien.

Jeffrey Lewis, ein Experte für Raketen am Middlebury-Institut für Internationale Studien im kalifornischen Monterey, liefert eine ähnliche Einschätzung. "Es sieht aus wie ein Unfall", sagte er der AP. "Zuerst gab es ein Feuer, das der Explosion vorausging, die kein Anschlag war. Und einige der Videos deuteten auf einen Popcorn-Effekt hin - es habe "pop, pop, pop, pop" gemacht, wie bei einer Explosion. Und: "Wenn man ein Feuer neben etwas Explosivem wüten lässt, und man nicht löscht, geht es hoch", sagt Lewis.

Der Tag danach: Hafen von Beirut ist ein Trümmerfeld

Versorgung droht zu kollabieren

Die ohnehin durch die Corona-Pandemie überlasteten Krankenhäuser sind komplett überfordert und stehen vor dem Kollaps. Nun droht auch noch die Versorgung der Stadt zusammenzubrechen: Der Hafen war der wichtigste Umschlagpunkt für Importe. Hilfsorganisationen befürchten bereits Engpässe bei Nahrungsmitteln und Medikamenten. "Der Libanon importiert 80 Prozent seiner Lebensmittel. Ich habe sofort gedacht: leere Supermarktregale, erhöhte Preise", sagt Maya Terro von der libanesischen Hilfsorganisation "Food Blessed".

Am Dienstag waren in einem Lagerhaus am Hafen mutmaßlich 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat detoniert. Die erste kleinere Explosion hatte zahlreiche Neugierige an die Fenster und auf die Balkone gelockt. Mit ihren Handys filmten sie das Geschehen, als die zweite massive Detonation viele in die Tiefe riss.

Die riesige Rauchwolke habe ihn an eine "Pilzwolke wie bei einer Atombombe" erinnert, berichtet der Büroleiter der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung im Libanon, Kristof Kleemann. Als die "Riesendruckwelle" auf ihn zugekommen sei, habe er sich hinter einer Wand in Sicherheit gebracht. Alle Fenster und Türen seiner Wohnung seien aus den Angeln gehoben worden.

Die Druckwelle riss einem Erdbeben gleich die Gebäude am Hafen nieder, kippte Autos um und ließ Fensterscheiben in der ganzen Stadt bersten. Am Tag nach der Katastrophe durchkämmten Rettungskräfte noch immer fieberhaft die Trümmer auf der Suche nach Toten und Verletzten.

In den völlig überforderten Krankenhäusern von Beirut spielten sich chaotische Szenen ab. Die Menschen drängten sich in den überfüllten Gängen in der Hoffnung auf Hilfe, viele mussten abgewiesen werden. Das Saint-Georges-Krankenhaus wurde selbst durch die Explosion schwer beschädigt, mehrere Mitarbeiter starben.

"Alles verloren - außer mein Leben"

Er habe bei der Explosion alles außer seinem Leben verloren, sagte der Immobilienmakler Johnny Assaf und hielt seinen notdürftig verbundenen Arm. Die Wucht der Explosion habe ihn durch sein Büro geschleudert. "Im Krankenhaus haben sie mich ohne Betäubung genäht. Bevor sie fertig waren, haben sie aufgehört, weil zu viele schwer Verletzte eingeliefert wurden. Menschen sind direkt vor meinen Augen gestorben."

Apokalyptischer Anblick

Noch Stunden nach den Explosionen hatte sich am Hafen von Beirut ein fast apokalyptisch anmutender Anblick geboten: Container waren wie Konservendosen verbogen, ihr Inhalt auf dem Boden verstreut. Schiffe standen in Flammen, zahlreiche Autos brannten aus. In den umliegenden Straßenzügen wurden Fensterscheiben und Schaufenster zertrümmert. Über der gesamten Hafengegend lag eine riesige Rauchwolke.

Der Boden war übersät mit Brillen, Schuhen und Papieren aus den angrenzenden Büros. Eine Leiche lag auf dem Boden neben einem intakten Koffer. Über Stunden hinweg war das unablässige Heulen der Sirenen der Krankenwagen zu hören, die immer neue Verletzte in die Krankenhäuser brachten.

Frau sucht ihren Bruder

An einem der Hafeneingänge rief eine junge Frau verzweifelt nach ihrem Bruder, sie wandte sich an die Sicherheitskräfte: "Er heißt Dschad, er hat grüne Augen!" Doch vergeblich. Niemand durfte die Unglücksstelle betreten. Nur die Rettungs- und Sicherheitskräfte durchsuchten die Trümmer nach Überlebenden und Toten.

Massenflucht aus der Hauptstadt

Tausende verließen am Dienstagabend die Hauptstadt, um sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen. Doch viele der plötzlich obdachlos gewordenen Menschen saßen ohne Zufluchtsort fest oder wollten ihre zerstörten Häuser nicht Plünderern überlassen. Die verheerenden Explosionen haben das ohnehin durch eine schwere Wirtschaftskrise gebeutelte Land hart getroffen - und die Bewohner Beiruts traumatisiert zurückgelassen.

(APA)

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