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"Es ist eine Frage der Perspektive"

Winfried Ender leitet die Bewährungshilfe „Neustart“ Vorarlberg in Bregenz. Ein Grundsatz der Einrichtung lautet „Wir ächten die Tat, aber achten den Täter“.
Winfried Ender leitet die Bewährungshilfe „Neustart“ Vorarlberg in Bregenz. Ein Grundsatz der Einrichtung lautet „Wir ächten die Tat, aber achten den Täter“. ©Sams
Winfried Ender, Leiter der Bewährungshilfe „Neustart“ Vorarlberg spricht mit W&W über die Grenzen zwischen Hetze und freier Meinung sowie die Wichtigkeit von ­Perspektiven.

Von: Harald Küng (WANN & WO)

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WANN & WO: Herr Ender, „Neustart“ stellt in Kürze das Projekt „Dialog statt Hass“ vor. Was steckt dahinter?

Winfried Ender: Wir erleben derzeit, dass die gesellschaftlichen Debatten sehr polarisiert ablaufen. Innerhalb der Gesellschaft gibt es viele Spannungen, Vorurteile nehmen zu. In den Online-Medien lassen die Menschen unter dem vermeintlichen Schutz der Anonymität ihren Gefühlen freien Lauf. Und da werden oft Grenzen überschritten, auch strafrechtlich. Etwa beim Straftatbestand der Verhetz­ung – Stichwort Hasspostings. Die Justiz hat erkannt, dass man mit Strafen alleine auf Dauer nicht weiterkommt. Es gab Gespräche mit der Staatsanwaltschaft und Richterschaft, ob wir da nicht etwas machen können. Daraufhin haben wir das Programm „Dialog statt Hass“ entwickelt, mit dem wir entgegensteuern wollen. Es werden bereits viele Hasskommentare angezeigt, aber es gibt noch eine große Dunkelziffer. Es ist heute kein Problem mehr, die jeweiligen Personen ausfindig zu machen.

WANN & WO: Wer setzt denn am häufigsten Hasspostings ab?

Winfried Ender: Fast 50 Prozent sind Männer im Alter zwischen 40 und 60 Jahren. Die allermeisten sind gut situiert und unbescholten. Da stellt sich die Frage: Was geht in diesen Menschen vor? Handelt es sich um einen Verhetzungsstraftatbestand, gibt es in der Regel eine teilbedingte Geldstrafe. Die Frage ist aber, ob man spezialpräventiv etwas erreicht. Bei „Dialog statt Hass“ geht es darum aufzuzeigen, dass jeder das Recht auf freie Meinungsäußerung hat. Das ist ganz wichtig. Es darf aber niemanden verletzt oder herabgesetzt werden. Es geht auch darum, zu sensibilisieren, was mit anderen Menschen passiert, wenn sie so etwas machen und wie können sie sich zukünftig so verhalten, dass sie nicht straffällig werden mit ihrer Haltung. Da ist auch Medienschulung dabei. WhatsApp-Gruppen zum Beispiel: Spreche ich nur mit drei Personen in einer Gruppe über solche Themen, mache ich mich nicht strafbar, ist die Gruppe aber größer, schon. Es geht darum, Tateinsicht herzustellen: Wir gehen auch mit den Leuten in Flüchtlingsheime, dort hören sie sich die Geschichten an. Warum sind die Menschen geflohen, was passiert in ihrem Heimatland? So soll die andere Seite kennengelernt werden. Bisher wird „Dialog statt Hass“ sehr gut angenommen. Das Programm ist Teil der Bewährungshilfe. Haben die Personen es durchlaufen, wird das Verfahren in der Regel auch eingestellt.

WANN & WO: Wie nehmen Sie Hass im Netz selbst wahr?

Winfried Ender: Ich habe meine Internetpräsenz sehr reduziert. Manchmal lese ich aber noch Postings durch, weil es mich schon interessiert, was da geschrieben wird. Ich denke, dass viele Leute sich gar nicht überlegen, was sie da eigentlich machen. Was ich positiv sehe, ist, dass zu wirklich sensiblen Themen, bei denen sozusagen die Kanaldeckel aufgehen, die Kommentarfunktion abgeschaltet wird. Es gibt eine redaktionelle Kontrolle, eine Moderation. Das sehe ich als sehr positive Entwicklung.

WANN & WO: Ist das Abschalten der Kommentarfunktionen aber nicht auch ein Eingriff in die freie Meinung?

Winfried Ender: Das ist eine gute Frage. Meiner Ansicht nach bedienen Foren zwei Seiten: Einerseits die Akteure, die sich gern präsentieren und stolz ihre Postingbrust vor sich hertragen. Und dann gibt es die, die mitlesen und sich denken: Na da geht’s ja wieder zu. Es ist eine Mischung aus Exhibitionismus und Voyeurismus. Das hat vielleicht einen gewissen Unterhaltungscharakter. Es muss aber redaktionelle Grenzen geben. Wenn es um Unfälle oder schwere Verbrechen geht, die medial über Tage und Wochen behandelt werden, stellt sich für uns die Frage: Wie geht es eigentlich den Opfern dabei? Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Darum finde ich Moderation in den Foren sehr wichtig.

WANN & WO: Wie wichtig ist ­Zivilcourage im Netz?

Winfried Ender: Das ist sehr wichtig, nicht nur im Netz, sondern überall, wo mir Hass und Diskriminierung unterkommt. Das muss auch gar nicht immer strafrechtlich relevant sein, das kann auch einfach in einem Nebensatz fallen. Jeder Mensch, der mitbekommt, wie jemand anderer herablassend behandelt wird, sollte einschreiten. Geht es um körperliche Gewalt, hat die Zivilcourage natürlich auch Grenzen.

WANN & WO: Kommen wir zu einem anderen Thema – der Bewährungshilfe selbst. Gibt es für jeden Ihrer Klienten Hoffnung?

Winfried Ender: In der Regel schon – zumindest für die Alltermeisten. Aber natürlich gibt es durchaus auch Menschen, bei denen die Prognosen nicht so großartig sind – weil sie selbst keine persönlichen Ressourcen haben – körperlich, geistig, vom ihrem Umfeld her. Aber dass wir jemanden ganz aufgeben, das gibt es in der Regel nicht. In einem Markenprozess haben wir festgelegt: „Neustart“ steht für Stolz, Wille und Mut. Letzteres ist so ausformuliert: Wir haben den Mut, an die zu glauben, an die niemand glaubt. Dazu bekommen wir auch den Auftrag vom Gericht. Bewährungshilfe ist immer auch eine zweite Chance. Die Entscheidung, ob diese auch genutzt wird, trifft die jeweilige Person aber selbst. Wir geben aber immer unser Bestes und versuchen, Alternativen aufzuzeigen. Es ist immer eine Frage der Perspektiven, die die Menschen haben.

WANN & WO: Stichwort Perspektive: Gerade die Flüchtlingsthematik polarisiert sehr. Schutzsuchende werden oft pauschal als Kriminelle abgetan, ihnen schlägt viel Hass entgegen. Wie nehmen Sie diese Situation wahr?

Winfried Ender: Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge wird kriminell – das möchte ich hier mit aller Deutlichkeit klarstellen. Und es stimmt: Oftmals werden alle in eine Schublade gesteckt. Menschen ohne Perspektiven sind ein grundsätzlicher Faktor in der Bewährunghilfe – und seit es uns gibt, also schon 62 Jahre. Das betrifft natürlich auch Menschen, die keinen gesicherten Aufenthalt bei uns haben. Wir wissen, dass die Menschen, die zu uns kommen, nicht arbeiten dürfen, oder mit 1,50 Euro Stundenlohn für ehrenamtliche Tätigkeiten abgefertigt werden. Das finde ich persönlich völlig falsch und sehr schade. Denn können diese Menschen arbeiten, lernen sie auch die Sprache, bauen ein soziales Umfeld auf und lernen, wie das Leben hier funktioniert. Sie haben Kontakte, Selbstwert und Perspektiven. Für unsere Arbeit ist aber vollkommen gleichgültig, woher eine Person stammt. Wenn ich den Menschen einen Sinn im Leben und eine Chance auf Integration gebe, senkt dies das Kriminalitätsrisiko. Das ist eine alte Weisheit. Aber hier gibt es in Österreich noch viel Luft nach oben.

Kurz gefragt

Wo und wie verbringen Sie am liebsten ihre Freizeit? Ich sitze gerne im Kaffeehaus, im Garten oder auf dem Motorrad und gehe gerne walken.

Wie schalten Sie am besten ab? Das funktioniert am besten, wenn ich nach draußen in die Natur gehe – aber ich singe auch im Chor. Das ist für mich ein sehr schöner Ausgleich und das mache ich schon den Großteil meines Lebens.

Was ist Ihr größter Traum? Lang leben, gesund bleiben und in den Himmel kommen.

Was schätzen Sie am Ländle am meisten? Die Mischung aus Kleinheit, Provinzialität, schönem Land, Modernität und Offenheit. Das ist ein sehr schöner Mix und teilweise auch ein bisschen ein Gegensatz.

Was wollten Sie als Kind einmal werden? Als Jugendlicher habe ich mich sehr für Archäologie interessiert.

Was bringt Sie auf die Palme? Intoleranz.

Zur Person

Winfried Ender Wohnort, Alter: Dornbirn, 62 Familienstand: geschieden, zwei Kinder Ausbildung, Beruf: Jus-Studium, Bankausbildung, Werbeleiter Hypo Group, Marketing/Verkauf/Online-Bereich für Hilti in ­Oklahoma (USA), seit 13 Jahren Leiter „Neustart“ Vorarlberg

(WANN & WO)

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