"Eine Essstörung ist ein Hilferuf der Seele" – so merken Eltern, wenn es gefährlich wird
Vorarlberger Expertinnen warnen: Social Media, Schönheitsideale und Leistungsdruck treiben Jugendliche in Essstörungen – und viel zu oft bleiben die Warnzeichen unerkannt. Expertinnen erklären, worauf Familien achten sollten und wie sie frühzeitig reagieren können.
"Essstörungen sind nie ein spontanes Phänomen"
Es beginnt schleichend. Ein Mädchen, das plötzlich nicht mehr am Familientisch isst. Ein leerer Kühlschrank, obwohl doch gerade erst eingekauft wurde. "Essstörungen sind nie ein spontanes Phänomen. Sie entwickeln sich über Monate, manchmal Jahre", erklärt Sigrid Hämmerle-Fehr vom ifs Fachbereich Psychotherapie.
Eine Essstörung sei nicht nur eine Frage des Gewichts: "Unter einem BMI (Body-Mass-Index) von 17 oder über einem BMI von 30 sprechen wir zwar von Unter- oder Übergewicht, aber entscheidend sind die psychischen Dynamiken: das zwanghafte Hungern oder das unkontrollierte Essen", erklärt die Psychotherapeutin. Besonders besorgniserregend: Nur rund 25 Prozent der Betroffenen suchen überhaupt professionelle Hilfe, der Großteil bleibt ohne Behandlung.

Häufige Arten von Essstörungen
- Anorexie (Magersucht): Zwanghaftes Hungern und extremes Untergewicht aus Angst vor Gewichtszunahme.
- Bulimie (Ess-Brech-Sucht): Wiederkehrende Essanfälle mit anschließendem Erbrechen oder anderen Maßnahmen zur Gewichtskontrolle.
- Binge-Eating-Störung: Unkontrollierte Essattacken in großen Mengen, ohne Erbrechen oder Ausgleichsverhalten.
- Adipositas: Krankhaftes Übergewicht (BMI über 30), oft Folge von dauerhaftem Überessen oder Binge-Eating.
Video: Sigrid Hämmerle-Fehr im Interview
Einfluss von Social Media: Schönheitsideale rund um die Uhr
Die neuen "Lehrer" sitzen längst nicht mehr in Klassenzimmern, sondern in den Handys der Jugendlichen. TikTok-Videos wie "What I eat in a day", Fitness-Challenges und Influencer, die Proteinshakes in die Kamera halten, prägen das Selbstbild einer ganzen Generation.
"Influencer verdienen damit Geld, egal ob mit Diät-Produkten oder Nahrungsergänzungsmitteln. Das hat nichts mit Expertise zu tun, sondern mit Geschäft", betont Drexler. Sein Äußeres mit anderen zu vergleichen, gab es schon immer. Aber: besonders gefährlich sei die ständige Verfügbarkeit: "Früher blätterte man ein bisschen in Modezeitschriften. Heute begleitet Social Media Jugendliche von morgens bis abends – im Bett, am Frühstückstisch, in der Schule." Laut Drexler belegen Studien, dass schon eine Halbierung der Social-Media-Zeit den Selbstwert deutlich verbessern würde.
Kein "Mädchen-Thema"
Noch immer gilt Essstörung als "Mädchen-Thema". Ein Irrtum, der fatale Folgen haben kann. "Bei Magersucht sind zwar neun von zehn Betroffenen weiblich. Aber bei Binge-Eating und Adipositas sind Buben massiv betroffen", sagt Drexler.
Zudem sei der Trend zu Fitness und Muskeln brandgefährlich: "16-Jährige, die mehrmals pro Woche ins Studio rennen, Proteinpulver schlucken oder sogar Testosteron-Booster kaufen – das ist längst Realität. Manche dieser Mittel sind illegal und gesundheitsschädlich, trotzdem werden sie auf Social Media massiv beworben", warnt Drexler.

"Es hat fast einen Ansteckungseffekt": Warum Mädchen häufiger betroffen sind
Mädchen und junge Frauen sind deutlich häufiger von Essstörungen betroffen als Buben. Einer der Hauptgründe liegt im gesellschaftlichen Druck: "Frauen werden seit Jahrzehnten viel stärker über ihr Äußeres definiert als Männer", erklärt Hämmerle-Fehr. Schlankheitsideale, Modetrends und die allgegenwärtige Darstellung von perfekten Körpern auf Social Media setzen vor allem Mädchen unter enormen Druck. Während Jungen in der Pubertät oft größer und muskulöser werden – ein Bild, das dem gängigen Ideal entspricht –, verändert sich der Körper von Mädchen in eine Richtung, die eher Angst macht: Brüste, Hüften und Rundungen widersprechen dem derzeit propagierten Bild von "schlank und durchtrainiert".
Hinzu kommt, dass junge Frauen von klein auf stärker dazu erzogen werden, auf ihr Aussehen und ihre Wirkung auf andere zu achten. "Mädchen sind oft disziplinierter, leistungsorientierter und sensibler im Vergleich zu ihren männlichen Altersgenossen. Diese Eigenschaften können dazu führen, dass sie restriktive Diäten sehr konsequent durchziehen – bis hin zur Magersucht", sagt Hämmerle-Fehr. Auch Carmen Drexler von der Caritas bestätigt: "Schon ab zehn, elf Jahren, wenn Mädchen ihr erstes Handy bekommen, beginnen sie, sich intensiver mit Social Media und den dortigen Vorbildern zu vergleichen. Jungs sind in diesem Alter oft noch stärker mit Gaming beschäftigt. Deshalb geraten Mädchen früher in den Strudel der Essstörungen."
Auch die Schule ist Schauplatz. Hämmerle-Fehr berichtet: "In Oberstufen-Mädchenklassen beobachten wir regelrechte Essstörungs-Wellen. Es hat fast einen Ansteckungseffekt: Wer isst weniger, wer ist disziplinierter? Der Vergleich ist brutal."
"Ein Spiegel der Familiendynamik"
"Es ist nie Zufall, dass ein Kind eine Essstörung entwickelt. Immer ist es auch ein Spiegel der Familiendynamik", so Hämmerle-Fehr. Besonders Mütter beeinflussen ihre Töchter: "Wenn eine Mutter selbst unzufrieden mit ihrem Körper ist, ständig Diäten macht oder schlecht über sich spricht, übernehmen die Töchter dieses Verhalten oft."
Das bedeute nicht, dass Eltern Schuld haben – aber ihr Umgang mit Essen, Körper und Gefühlen prägt die Kinder.
Erste Warnsignale: Darauf sollten Eltern achten
Frühe Intervention ist entscheidend. "Alles, was Jugendliche über Jahre einüben, wird zur Routine im Gehirn. Je länger eine Essstörung anhält, desto schwieriger der Ausstieg", warnt Hämmerle-Fehr.
Viele Eltern bemerken die Veränderungen erst spät. Dabei gibt es klare Anzeichen:
- Rückzug vom gemeinsamen Essen: Man möchte nicht mehr gemeinsam mit der Familie essen.
- Fressattacken im Geheimen: Plötzlich fehlen große Mengen an Lebensmitteln.
- Übertriebene Kontrolle: Strenger Verzicht auf Kohlenhydrate, Kalorien zählen, Mahlzeiten abwiegen.
- Sozialer Rückzug & Traurigkeit: "Essstörungen sind oft ein Ventil für innere Not. Es geht nie nur ums Essen."
Aber was können Eltern tun, wenn sie derartige Anzeichen bemerken? Carmen Drexler, Leiterin der Caritas-Fachstelle Take Care, warnt: "Eine Essstörung ist ein Hilferuf der Seele. Eltern sollten nicht das Essen in den Vordergrund stellen, sondern fragen: Geht es dir in der Schule schlecht? Bist du traurig? Wirst du gemobbt?"
Zukünftig mehr Fälle von Adipositas
Ein Rückgang von Essstörungen ist laut Sigrid Hämmerle-Fehr nicht in Sicht – im Gegenteil. "Dass sich das Thema Essstörungen in den nächsten Jahren erledigt, das glaube ich nicht", sagt die Expertin. Auch ein massiver Anstieg sei eher unwahrscheinlich. Doch sie rechnet mit einer deutlichen Verschiebung der Krankheitsbilder: "Wir werden künftig weniger klassische Magersucht sehen, dafür aber mehr Fälle von massivem Übergewicht und Adipositas. Dieses Übermaß an Essen wird uns in den kommenden Jahrzehnten stärker beschäftigen."
Beratungsstellen für Essstörungen
- Clearingstelle Psychotherapie – ifs Vorarlberg
+43 5 1755-522
Das ifs bietet psychotherapeutische Behandlung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an, wenn bereits eine Essstörung besteht. Anmeldungen für Psychotherapie sind über die Webseite des ifs möglich, https://www.ifs.at/psychotherapie-vorarlberg.html.Bei einer beginnenden Problematik bietet auch die ifs Jugendberatung Mühletor (niederschwelliges Beratungsangebot) oder die ifs Kinder- und Jugendberatung (klinisch psychologische Beratung) Hilfe an. Diese Angebote können an jeder ifs Beratungsstelle in Vorarlberg angefragt werden. - Take care – Fachstelle für Essstörungen
+43 5522 200 1700
essstoerungen@caritas.at
Die Caritas-Fachstelle Take Care bietet monatliche Web-Sprechstunden, Beratungen für Angehörige, Impulsvorträge an Schulen und Coachings für Pädagogen. Der nächste Termin findet am 4.9.2025 um 16:00 Uhr statt. - femail – Informationen von Frauen für Frauen
+43 5522 31 002
info@femail.at - Jugend- und Kinderberatungsstelle Unterland (Dornbirn)
+43 5572 21274
jugend.unterland@promente‑v.at bzw. kinder.unterland@promente‑v.at - Jugend- und Kinderberatungsstelle Oberland (Nenzing)
+43 5525 63829
kiju.oberland@promente‑v.at
(VOL.AT)