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Ein "Abendland" voll Abenteuer

Michael Köhlmeiers fulminanter Roman hat den Namen: "Abendland". Der Vorarlberger Autor erweist sich in seinem neuen Buch als souveräner Erzähler auf der Höhe seines Könnens.

Carl Jacob Candoris, Georg und Sebastian Lukasser; Edith Stein und Emmy Noether, Woody Guthrie und Robert Oppenheimer; die Größen und die Finessen des Jazz und der Mathematik; stalinististischer und nationalsozialistischer Terror; RAF-Terrorismus, Kolonialismus und Kalter Krieg; Nürnberger Prozesse und US-Atomprogramm; Innsbruck, Portugal und New York; das Geheimnis von Moskau und die Wildnis von North Dakota. Gegen Ende der fast 800 Seiten von Michael Köhlmeiers Roman „Abendland“ brummt dem Leser ganz schön der Kopf. Eine derartige Fülle von Figuren, Schauplätzen und Zeitpanoramen haben uns bisher höchstens die bekannten und bewunderten US-Romanciers zugemutet. Doch Köhlmeier braucht den Vergleich nicht zu scheuen.

Vor einem Vierteljahrhundert hatte der 1949 geborene Vorarlberger Autor mit „Der Peverl Toni und seine abenteuerliche Reise durch meinen Kopf“ (1982) ein kraftvolles und originelles Romandebüt geliefert und nach seinem Abenteuer-Roman „Spielplatz der Helden“ (1988) vorwiegend Short Stories und Novellen vorgelegt. Wer vermutete, Köhlmeier habe sich in den vergangenen Jahren in der Nische des Nach-Erzählens alter Stoffe, die ihm bis ins Pensionsalter Auskommen und Popularität garantiere, allzu bequem gemacht, der wird nun eindrucksvoll eines Besseren belehrt.

Köhlmeier ist Erzähler, nicht Wiederkäuer, er braucht nur Muße und Zeit, sein beachtliches Können sorgsam anzuwenden. Denn Zweierlei ist an „Abendland“ bemerkenswert: Souverän bewahrt der Autor den Überblick, zieht die Fäden und den Leser in seinen Bann. Er legt es vom ersten Augenblick auf den großen Wurf an, auf ein Streiflicht, das über das ganze 20. Jahrhundert schwenkt, von Europa nach Amerika und wieder retour – und dennoch wirkt der Roman weder chaotisch, noch didaktisch. Zwar verliert der Leser angesichts der ständigen Vor- und Rückblenden, der Einschübe und Rekapitulationen leicht den Überblick, wenn Sachverhalte immer wieder nur kurz angedeutet und erst viele Seiten später weiterentwickelt werden und sich Zusammenhänge erst in Etappen erschließen – doch, und hier liegt die zweite Meisterschaft Köhlmeiers: Nach jedem Bruch braucht es nur wenige Sätze, um sich zu orientieren und den Lesefluss wieder aufzunehmen.

Nebenfiguren – und von denen gibt es in „Abendland“ eine ganze Menge – gewinnen innerhalb weniger Seiten eine solche Vitalität, dass man – 800 Seiten hin oder her – gerne mehr von ihnen erfahren würde. Ob es das japanische Mathe-Genie Makoto Kurabashi ist, das auf rätselhafte Weise öffentlich Selbstmord verübt, die 50-jährige Schwarze Maybelle Houston, die sich in einer Mischung aus Amour Fou und mütterlicher Aufopferung um Sebastian Lukasser kümmert, aber bei einem Autounfall ums Leben kommt, der mysteriöse Moskauer Dolmetsch Pontrjagin, von dem Candoris lange annimmt, er habe ihn in finsterer Winternacht umgebracht, oder der seltsame polnische Einwanderer Tadeusz Zukrowski, der in der Weite des Theodore Roosevelt National Parks zuerst Lukassers Retter und dann fast sein Mörder wird – bei allen hätte man gerne mehr erfahren und fühlt sich verraten und betrogen, wenn der Autor sie aus dem Spiel nimmt.

Carl Jacob Candoris und Sebastian Lukasser sind die Konstanten in all den turbulenten Zeit- und Schauplatzwechseln, das Gerüst, um die herum sich die Geschichten ranken. Candoris, 95-jähriger weit gereister und welterfahrener Mathematik-Professor (eine kleine Hommage an den 2002 im Alter von 111 Jahren gestorbenen Innsbrucker Mathematiker Leopold Vietoris), erzählt seinem mittlerweile 52-jährigen Patenkind, dem nach einer Prostata-Operation unter Inkontinenz leidenden Schriftsteller Sebastian, seine Lebensgeschichte, um sie für die Nachwelt festzuhalten. Candoris Leben war nicht nur höchst abenteuerlich, sondern auch auf vielfältige Weise mit der Familie Lukasser verbunden, seit er Sebastians Vater Georg im Nachkriegs-Wien als Jazzer entdeckt hatte und seither als Freund, Gönner und Nothelfer der Familie fungierte. Bei ihren Sitzungen erfahren beide Männer einiges über den jeweils anderen, und so wird eine bunte Vielfalt von Episoden, Geschichten, Anekdoten und Begebenheiten ausgebreitet.

Gültige Botschaften oder Einsichten sollte man sich von „Abendland“ keine erwarten, doch fast 800 Seiten pralles Leben. „Abendland“ ist dennoch eher zu dünn als zu dick, bietet ein außergewöhnliches Leseerlebnis und wird ohne Zweifel zu den wichtigsten Büchern dieses Herbstes zu zählen sein. Für den Deutschen Buchpreis ist es bereits nominiert. Der zu erwartende Erfolg sollte Michael Köhlmeier darin bestärken, seine Geschichten und Figuren künftig wieder weniger in seiner Bibliothek als in seinem Kopf zu suchen. Denn dort wartet, da ist man sich nach „Abendland“ ganz sicher, noch eine ganze Menge, das es Wert wäre, erzählt zu werden.

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