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„Die Proteste sollten uns freuen“

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Demos, Verschwörungstheorien & Co.: W&W fragte den Soziologen Dr. Simon Burtscher-Mathis, was die Corona-Krise mit der Gesellschaft macht.

von Anja Förtsch/Wann & Wo

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WANN & WO: Am vergangenen Wochenende demonstrierten in Bregenz rund 400 Menschen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung. Was führt dazu, dass Menschen gegen etwas auf die Straße gehen, dass ihr eigenes und das Leben ihrer Lieben schützen soll, was treibt diese Menschen aus soziologischer Sicht an?

Simon Burtscher-Mathis: Die Menschen bewerten die Maßnahmen unterschiedlich, weil sie unterschiedlich davon betroffen sind. Für viele Menschen sind sie vor allem ein Schutz für ihre Gesundheit, für andere steht die Einschränkung ihrer Freiheitsrechte im Vordergrund. Diese Demonstration zeigt auf, dass die Maßnahmen neben den gesundheitlichen und wirtschaftlichen auch soziale Folgen für das Zusammenleben haben. Und offensichtlich sind viele Menschen mit dem Umgang mit diesen Folgen nicht zufrieden. Das wird jetzt im Verlauf der Krise immer deutlicher.

WANN & WO: Die Demonstration hatte – wie andere Demonstrationen etwa in Wien oder Berlin auch – den Anspruch, unpolitisch zu sein. Das hatte zur Folge, dass dort Menschen mit linken neben Menschen mit rechten Positionen marschierten; eine Sache, die sonst unmöglich scheint. Was für Menschen kommen im Kreis dieser Maßnahmen-Gegner zusammen und wie kommt es, dass politische Linien scheinbar ignoriert werden?

Simon Burtscher-Mathis: Hier steht das gemeinsame Interesse über den politischen Unterschieden. Das verbindet Menschen mit unterschiedlichsten Einstellungen. Das ist auch in jedem Verein oder anderen Interessensgemeinschaften der Fall. Wenn es ein gemeinsames Ziel gibt, rücken die Unterschiede zwischen den Menschen in den Hintergrund. Das ist im Übrigen auch ein vielversprechender Weg für die Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft. Es ist in unser aller Interesse, die gemeinsamen Zielen in den Vordergrund zu rücken, anstatt ständig die Unterschiede zwischen uns zu betonen.

WANN & WO: Im Kreis der Maßnahmen-Gegner werden immer wieder auch Ansichten etwa von Impf- oder 5G-Gegnern geteilt, auch Verschwörungstheorien machen die Runde. Nutzen solche Menschen die Stimmung im Land infolge der Corona-Krise ganz gezielt aus, um auf „Bauernfang“ zu gehen?

Simon Burtscher-Mathis: Es ist das Wesen von modernen, liberalen Gesellschaften, dass es sehr unterschiedliche Meinungen gibt. Unter dieser Vielzahl an Meinungen gibt es immer auch Extrempositionen. Und Krisenzeiten waren immer schon besonders geeignet für Verschwörungstheorien.

WANN & WO: Was können die Bürger tun, um nicht Opfer solcher „Bauernfängerei“ zu werden, sich aber trotzdem kritisch ihre eigene Meinung zu bilden?

Simon Burtscher-Mathis: Wir dürfen uns davon nicht aus der Ruhe bringen lassen und nicht hysterisch, sondern mit Fakten reagieren. Es ist die Aufgabe von Experten und Politikern, der Bevölkerung mittels verständlich präsentierter Fakten, Sicherheit zu geben. Gleichzeitig liegt es in der Eigenverantwortung der Bevölkerung, sich mit den Fakten auseinanderzusetzen. Dieses Wechselspiel ist eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende liberale Demokratie.

WANN & WO: Aktuell scheint es aber nicht nur die Kritiker zu geben, sondern auch die Befürworter der Maßnahmen, die verunsichert oder gar verängstigt sind. Wie kommt es aus soziologischer Sicht zu diesen völlig unterschiedlichen Auffassungen?

Simon Burtscher-Mathis: Menschen reagieren auf Krisen sehr unterschiedlich. Wenn die Angst dominiert, sind klare Maßnahmen erwünscht. Wer sich sicher fühlt, richtet den Blick stärker auf die negativen Folgen der Maßnahmen und neigt zur Kritik. Dieses Muster ist in jeder Krise zu beobachten. Wichtig wäre, für mehr Ausgleich zu sorgen. Wir haben sicher in den letzten Wochen ein Übermaß an Angst erfahren. Ich sehe es als Zeichen einer funktionierenden Demokratie, dass es jetzt auch Menschen gibt, die den Umgang mit dieser Angst kritisieren. Diese Proteste sollten uns nicht stören, sondern freuen, weil sie Ausdruck einer lebendigen Demokratie sind.

WANN & WO: Stichwort Angst: Die Regierung soll gezielt Angst unter der Bevölkerung verbreitet haben, um so die Kontaktbeschränkung voranzubringen und die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Nun muss man schon zugestehen, dass dieser Weg funktioniert hat und die Infektionszahlen gesunken sind. Ist ein solches Spiel mit der Angst aber ethisch vertretbar? Was macht so etwas mit den Menschen?

Simon Burtscher-Mathis: Angst war sicher durchgängig sehr stark wahrnehmbar und hat auch sehr viele Menschen zusätzlich verunsichert. Ob sie zu stark eingesetzt wurde und die Folgekosten zu hoch sind, ist eine Frage, die öffentlich diskutiert werden muss. Hier hat die Bevölkerung und auch das Parlament die Aufgabe, kritische Fragen zu stellen. Und das passiert nun auch zunehmend.

WANN & WO: Es heißt, dass junge Menschen die Krisen der vergangenen Jahre in der Regel besser überstanden haben, auch weil vieles davon keinen direkten Effekt auf sie hatte. Das ist aktuell anders. Was glauben Sie, wie die Corona-Krise die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Perspektive der folgenden Jahre beeinflussen wird?

Simon Burtscher-Mathis: Kinder und Jugendliche sind für mich zusammen mit den Frauen die am stärksten von dieser Krise betroffenen Bevölkerungsgruppen. Für Kinder aus sozial benachteiligten Gruppen verstärkt die Isolation ihre ungleichen Lebensbedingungen zusätzlich, weil sie keinen Zugang zu außerfamiliären Ressourcen mehr haben. Und Frauen werden in alte Rollenmuster zurück gedrängt und übernehmen stellvertretend für den Staat Aufgaben in der Erziehung und Bildung der Kinder. Diese Krise verstärkt also die soziale Ungleichheit. Darüber wurde durch den einseitigen Fokus auf die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen, viel zu wenig gesprochen. Ich hoffe, dass es uns in Zukunft in Krisen besser gelingt, die unterschiedliche Betroffenheit von Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen.

WANN & WO: Kampfhandlungen im Mittleren Osten, Flucht, Wirtschaft, Klima: Die Welt scheint seit Jahren von einer Krise zur nächsten zu schlittern – oder gar nicht herauszukommen. Was bedeutet das für die Menschen, wie verändert sich die Gesellschaft?

Simon Burtscher-Mathis: Mein Credo lautet: Wenn wir Entwicklungen verstehen, können wir sie gestalten. In der Diskussion über die Entwicklung der Gesellschaft dominieren Bedrohungs- und Angstszenarien. Ja, wir leben in einer stark globalisierten Welt und ja, das bedeutet, dass wir alle stärker als früher von globalen Entwicklungen betroffen sind. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir täglich auch von dieser globalisierten Welt profitieren. Unser Wohlstand in Vorarlberg ist durch globalen Handel ermöglicht worden. Wir müssen lernen, diese Entwicklungen weniger emotional zu betrachten und zwischen den positiven und den negativen Entwicklungen zu unterscheiden. Dann werden wir handlungsfähig und können Entwicklung gestalten.

WANN & WO: Was raten Sie aus soziologischer Sicht für den Umgang mit der Corona-Krise – sowohl den Bürgern, als auch der Politik?

Simon Burtscher-Mathis: Es braucht weniger Angst und mehr Gelassenheit. Die Menschheit war, ist und bleibt wiederkehrend von globalen Krisen betroffen. Angst und Panik helfen uns nicht weiter. Wir müssen lernen, globale Entwicklungen als Gemeinschaftsaufgaben der Menschheit zu verstehen. Das ist das größte Projekt in der Geschichte der Menschheit. Aktuell leben wir zwar global, denken aber lokal. Dieses Muster funktioniert in einer globalisierten Welt nicht mehr. Grenzen dicht machen, Umweltkosten auf andere Staaten abwälzen, Probleme auslagern, das sind vorübergehende Lösungen. Langfristige Lösungen brauchen globale Abstimmungen. Auch wenn viele  Menschen das nicht gerne hören: Wir brauchen nicht weniger globale Orientierung, sondern mehr.

Zur Person

Name: Dr. Simon Burtscher-Mathis, geb. 14. September 1976 (43)
Ausbildung und Karriere: 2003 bis 2016 Soziologe in leitender Funktion bei okay. zusammen leben, Projektstelle für Zuwanderung und Integration; 2009 bis 2015 Lehrbeauftragter an der Universität Linz; seit 2011 Lehrbeauftragter an der FH Vorarlberg; seit 2016 freischaffender Soziologe

Proteste gegen Corona-Maßnahmen

Bregenz

Bei der selbsternannten „Demo für Menschenrechte, Freiheit und demokratische Grundrechte“ zogen vergangenen Sonntag mehr als 400 Menschen durch Bregenz. Der Protest richtete sich laut Teilnehmern gegen „gezielte Desinformation und Panikmache der Regierung in Zusammenhang mit dem Coronavirus“. Die Demo verlief friedlich, Ordner achteten auf die Einhaltung des Mindest-abstandes.

Wien

Während die jüngste Corona-Demo in der Hauptstadt am 1. Mai friedlich verlief, sorgte die vorige für Schlagzeilen: Ein Protest am 25. April wurde von der Polizei aufgelöst, ein Mann wurde wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen. Er wurde anschließend wegen Herz-Kreislauf-Problemen behandelt, einige Kritiker sprachen von Polizeigewalt.

Berlin

Am Mittwoch versammelten sich in Berlin etwa 400 Men­schen zu einer nicht angemel­deten Demonstration gegen die Corona- Maßnahmen. Aus dieser Menge heraus wurde ein Kame­rateam des ARD tätlich angegrif­fen. Bereits bei einer weiteren Demo am 1. Mai in Berlin wurde ein ZDF-Team von Corona- Kritikern angegriffen.

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