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"Der Leidensdruck ist hoch" – Wenn psychiatrische Hilfe Monate auf sich warten lässt

Dr. Petra Steger-Adami im Gespräch mit VOL.AT.
Dr. Petra Steger-Adami im Gespräch mit VOL.AT. ©Hartinger/Canva
Psychisch krank – und trotzdem kein Termin? Vorarlberg hat die höchste Psychiaterdichte Österreichs – und trotzdem müssen viele monatelang auf Hilfe warten. Wie kann das sein?

Trotz österreichweiter Top-Zahlen bei Kassenstellen müssen viele Vorarlberger wochen- oder gar monatelang auf einen Termin beim Psychiater warten. Wie kann das sein – und was läuft schief im System? Dr. Petra Steger-Adami, Obfrau der Fachgruppe Psychiatrie, spricht gegenüber VOL.AT offen über wachsenden Druck, unbezahlte Arbeit und eine Versorgung, die zunehmend an ihre Grenzen stößt.

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"Im Moment sind wir in einer guten Situation"

Mit 12,5 Kassenstellen für Erwachsene verfügt Vorarlberg über das beste Versorgungsverhältnis in ganz Österreich: Ein Kassenpsychiater kommt hier auf 33.000 Einwohner – in Wien liegt der Schnitt bei 1:51.300. "Im Moment sind wir in einer guten Situation", so Steger-Adami. Doch: Gut aufgestellt bedeutet nicht automatisch gut versorgt – insbesondere, wenn der tatsächliche Bedarf das System übersteigt.

Denn die Nachfrage steigt stark. Einerseits, weil psychische Erkrankungen weniger stigmatisiert werden – eine positive Entwicklung. Das Bewusstsein in der Bevölkerung habe sich verbessert, gleichzeitig sei die Hemmschwelle, sich in Behandlung zu begeben, gesunken.

Die Versorgung kann mit dieser Dynamik oft nicht Schritt halten. Vor allem, weil psychiatrische Erkrankungen meist keine kurzfristige Behandlung erlauben: "Patienten müssen je nach Krankheitsbild oft über einen längeren Zeitraum und hochfrequent betreut werden", erklärt die Fachgruppenobfrau. Dadurch blockieren einzelne Fälle über Monate hinweg Therapieplätze – und der Rückstau wächst.

"Leidensdruck der Patienten ist hoch"

Allerdings betont Steger-Adami auch: "Die Wartezeiten hängen primär an der Dringlichkeit – und sie sind sehr wohl steuerbar." Wer sich zuerst an den Hausarzt wendet oder über das Dringlichkeitsterminsystem sowie die SPDI-Stellen vermittelt wird, komme oft deutlich schneller zu einem Facharzttermin. Häufige Arztwechsel oder Eigenrecherche über Google hingegen würden das System zusätzlich belasten. "Der Leidensdruck der Patienten ist hoch – aber nicht jedes Krankheitsbild ist gleich dringlich, auch wenn jedes gleich wichtig ist."

Steger-Adami in ihrer Praxis. ©Hartinger

Die Liste an Zusatzaufgaben, die auf Psychiatern lasten, ist lang: Begutachtungen für Gerichte, Mitarbeit in sozialpsychiatrischen Einrichtungen, Gutachten für den Pensionsantritt oder den Führerschein. Hinzu kommen Gremienarbeit, Bürokratie, Telefonate, E-Mail-Fluten – und eine wachsende Anspruchshaltung seitens der Patienten. "Oft soll alles sofort erledigt werden", sagt Steger-Adami. Eine Erwartung, die im Versorgungsalltag kaum erfüllbar ist.

"Mein Handwerker kann jede Stunde verrechnen – ich nicht"

Kritisch sieht Steger-Adami die strukturellen Rahmenbedingungen für Kassenärzte. Zusätzliche Stellen seien finanziell derzeit nicht möglich. "Nicht einmal der Punktewert wurde an die Inflation angepasst", kritisiert sie. Das bestehende degressive Entlohnungsmodell sorge zudem dafür, dass mit zunehmender Patientenzahl die einzelne Leistung weniger wert wird. Viele Tätigkeiten seien überhaupt nicht abgebildet – etwa neue, zeitintensive Therapien.

Steger-Adami selbst arbeitet nach eigenen Angaben hochfrequent, um möglichst vielen Menschen zu helfen – auch wenn es sich finanziell nicht lohnt: "Mein Handwerker kann jede Stunde verrechnen – ich nicht." Und obwohl Vorarlberg derzeit keine Probleme hat, Kassenstellen zu besetzen, warnt sie vor negativen Tendenzen. "Das ständige Schlechtreden des Kassensystems macht die Situation nicht besser", sagt sie deutlich.

Schon jetzt sei das Kassensystem durch das degressive Entlohnungsmodell für viele unattraktiv. Der wachsende Arbeitsdruck, die zunehmende Bürokratie und fehlende finanzielle Anreize führten dazu, dass viele Psychiater lieber außerhalb des Kassensystems tätig seien – obwohl dort wichtige Aufgaben, wie etwa Begutachtungen oder Mitarbeit in Einrichtungen, liegen bleiben könnten.

Neben der steigenden Nachfrage und dem strukturellen Mehraufwand sieht Steger-Adami auch politische Rahmenbedingungen als Teil des Problems. "Aufgrund der Sparmaßnahmen, die von der Politik getroffen werden mussten, wurde bereits jetzt eine Reduktion der sozialpsychiatrischen Ausgaben vorgenommen – und das wird in der Versorgung spürbar sein."

"Der Druck wächst"

Steger-Adami spricht offen: Sie sei gerne Kassenärztin, wolle ihre Patienten langfristig begleiten, und kenne als ehemalige Wahlärztin beide Systeme gut. Aber: "Der Druck, möglichst vielen Menschen zu helfen, wächst – ebenso wie die Unzufriedenheit, wenn Mitwirkung eingefordert wird." Negativrezensionen in sozialen Medien, weil jemand keinen Wunschtermin bekomme, hält sie für ein "Unding".

Doch auch das System selbst gerät zunehmend an seine Grenzen. So habe etwa die jüngst geschaffene zusätzliche Stelle in Dornbirn, laut Steger-Adami, in ihrer eigenen Praxis keine spürbare Entlastung gebracht. Ein nachhaltiger Effekt könne nur durch strukturelle Veränderungen entstehen – und durch einen ehrlicheren Umgang mit dem, was realistisch leistbar ist.

Dr. Petra Steger-Adami. ©Hartinger.

"Ressourcen sind begrenzt"

Aktuell wird an einem Landespsychiatriekonzept für 2025–2035 gearbeitet. Steger-Adami begrüßt das – und mahnt zugleich zur Ehrlichkeit: "Psychiatrie braucht ein Team aus unterschiedlichen Berufsgruppen. Und die Ressourcen sind begrenzt – das muss auch offen kommuniziert werden." Kurzfristige Lösungen erwartet sie keine, schon allein aus finanziellen Gründen. Helfen würde hingegen schon einiges: weniger Bürokratie, keine Medikamentenengpässe, bessere Honorierung und eine stärkere Einbindung des Wahlärztesystems.

So kommen Sie schneller zu einem Psychiater-Termin

  • Zuerst zum Hausarzt gehen: Der erste Weg sollte immer über den Hausarzt führen. Sie können die Dringlichkeit einschätzen, erste Maßnahmen setzen und gezielt an Fachärzte weitervermitteln.
  • Das Dringlichkeitsterminsystem nutzen: Wenn eine akute psychische Belastung vorliegt, kann über das sogenannte Dringlichkeitsterminsystem ein schneller Facharzttermin vermittelt werden – oft innerhalb weniger Tage.
  • SPDI kontaktieren (Sozialpsychiatrische Dienste): Die SPDI-Stellen bieten niederschwellige, erste Hilfe an. Sie begleiten Betroffene und helfen bei der Terminvermittlung. Auch hier ist oft rascher Zugang zu Fachärzten möglich.
  • Bereits bestehende Arztkontakte nutzen: Wer schon einmal bei einem Psychiater oder einer Psychiaterin war, kann sich im Akutfall direkt wieder an diese Praxis wenden – das erleichtert und beschleunigt die Terminfindung.
  • Nicht auf "Google-Bewertungen" fixieren: Im Notfall ist es wichtig, Hilfe zu bekommen – nicht, ob der Arzt besonders sympathisch wirkt oder nah an der eigenen Wohnung liegt. Dr. Steger-Adami betont: "Im Notfall sollte das keine Rolle spielen."
  • Keine häufigen Arztwechsel: Ständiger Wechsel zwischen Ärzten erschwert die Versorgung und belastet das System zusätzlich. Besser: einen Behandlungsweg einschlagen und dort bleiben.
  • Wahlärzte als Ergänzung nutzen: Auch im Wahlarztsystem gibt es Versorgung. Ein Teil der Kosten kann rückerstattet werden. Besonders bei langen Wartezeiten auf Kassenplätze kann das eine Option sein.
  • Geduldig bleiben, aber nicht aufgeben: Nicht jede psychische Erkrankung ist gleich dringlich – aber jede ist wichtig. Dr. Steger-Adami: "Die Wartezeiten hängen von der Dringlichkeit und Akuität ab – und sind steuerbar."

(VOL.AT)

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