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Bittersüße Exil-Literatur: "Kind aller Länder" von Irmgard Keun

Keuns 1938 erschienener Roman über das Schicksal von Emigranten ist erstaunlich aktuell
Keuns 1938 erschienener Roman über das Schicksal von Emigranten ist erstaunlich aktuell ©Kiepenheuer & Witsch / ullstein bild
Ein kleines Meisterwerk in Sachen Exil-Literatur wurde nun wiederaufgelegt: "Kind aller Länder" von Irmgard Keun erschien 1938, ist jedoch erstaunlich aktuell. Der Roman schildert das Schicksal von Emigranten aus der Sicht eines kleinen Mädchens und ist unser Buch-Tipp der Woche.

“Das kunstseidene Mädchen” machte die junge Kölner Autorin Irmgard Keun (1905-1982) schlagartig bekannt. Doch ihr frecher, moderner Großstadtstil war den Nazis ein Dorn im Auge und wurde von ihnen als “Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz” diffamiert. Nachdem ihre Romane verboten worden waren, ging Irmgard Keun nach Ostende ins Exil.

Zermürbendes Leben einer deutschen Emigrantenfamilie

Nach dem Krieg wurde sie schnell vergessen und erst Ende der 1970er-Jahre wiederentdeckt. Kiepenheuer und Witsch hat jetzt ein kleines Meisterwerk von Keuns Exilliteratur wiederaufgelegt. “Kind aller Länder” wurde 1938 in Amsterdam veröffentlicht und beschreibt aus der Sicht eines kleinen Mädchens das zermürbende Leben einer deutschen Emigrantenfamilie. In der Geschichte dieser Familie spiegelt sich Keuns eigenes Schicksal wider. So lässt sich in dem Liebespaar des Romans unschwer das Literatenpaar Irmgard Keun und Joseph Roth erkennen, das im belgischen Exil eine turbulente und alkoholgeschwängerte Beziehung führte.

Das Buch hat aber auch aktuelle Anklänge, erzählt es doch ganz allgemein von den Härten des Flüchtlingsalltags. Das Thema ist also schwer. Doch Keun hat einen genialen Kniff gefunden, das Schwere leicht zu machen. Sie lässt einfach die zehnjährige Tochter des Paares erzählen. Kully, deren Muttersprache Kölsch ist, die aber als gewandte Weltbürgerin auch Englisch, Französisch, Holländisch und Polnisch parliert, schildert im munteren kindlichen Plauderton ihr prekäres Leben.

Flüchtlingsalltag in “Kind aller Länder”

Kullys Vater ist ein einstmals erfolgreicher Literat, der Deutschland aus politischen Gründen verlassen musste. Jetzt schlägt er sich wie viele seiner Kollegen als Exilautor durchs Leben. Ständige Geldnöte beherrschen den Alltag der kleinen Familie. Während der Vater, ein liebenswerter Luftikus und Schwerenöter, meist durch die Gegend reist, um neue Geldquellen anzuzapfen, führen Mutter und Tochter ein höchst improvisiertes Leben in verschiedenen europäischen Hotels. Da sie die Rechnung meist nicht bezahlen können, müssen sie erfinderisch sein. Ab und zu verschwinden allerdings auch schon einmal ihre Mäntel im Pfandhaus.

Kully hat eine kindlich-pragmatische Sicht auf das Leben: “Meine Mutter und ich sind meinem Vater eine Last, aber da er uns nun mal hat, will er uns auch behalten.” Manchmal vertreiben sich Mutter und Tochter die Zeit mit einem Spiel, das ein trauriges Schlaglicht auf ihr unruhiges Vagabundenleben wirft. Sie müssen nämlich aufzählen, in wie vielen Betten sie schon geschlafen und in wie vielen Zügen sie bereits gesessen haben: “Und wer am meisten hat, hat gewonnen.”

Wunderbare, bittersüße Lektüre von Irmgard Keun

Für Emigranten wie sie, die nirgendwo willkommen sind, gibt es in den Augen des Mädchens eine ganz praktische Lösung: “Wir können nicht abreisen, weil wir das Hotel nicht bezahlen können. Wir können in kein anderes Land, aber wir dürfen auch nicht hierbleiben. Vielleicht kommen wir ins Gefängnis, dann werden wir verpflegt.” Auch zum Tod hat sie eine erstaunlich nüchterne Haltung: “Mein Vater hat einen Revolver, mit dem kann er schießen. Wenn wir mal gar nicht mehr weiterwissen, schießt er uns damit tot. Dann kann uns wenigstens nichts mehr passieren.”

Das Europa des Jahres 1938 ist ein Kontinent in Schockstarre vor Hitler. Nach dem “Anschluss” Österreichs kommen weitere Exilanten angereist. Es gibt immer mehr Flüchtlinge und ihr Raum wird kleiner. Bald bleibt nur noch die Flucht nach Amerika. Dass Keun diese tragische Situation in kindlich-humorvoller Sprache schildert, ohne dass es jemals peinlich wird, spricht für ihre große Könnerschaft. “Kind aller Länder” ist eine wunderbare, bittersüße Lektüre und in jedem Fall eine Wiederentdeckung wert.

Irmgard Keun: “Kind aller Länder”, Kiepenheuer & Witsch, 224 S., 18,40 Euro

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(apa/red)

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