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Ausnahmezustand am Brunnenmarkt

Je näher man dem wohl größten und bekanntesten türkischen Lokal Wiens, dem "Kent", kommt, desto mehr kann man erahnen, was im Inneren des Restaurants los ist - nämlich die Hölle.

Die Hauptrolle spielen dabei die bemitleidenswerten Kellner, die durch die Bestellungen der Gäste permanent vom Großbildfernseher weggelockt werden.

“Türkyie, Türkyie”, dröhnt es aus dem prall gefüllten Saal, wo am hinteren Ende, hoch über der Bar, ein Flatscreen-Fernseher von gut und gerne 200 Augenpaaren angestarrt wird. “Bitte schön!”, fragt ein freundlicher junger Mann mit rot-weißem T-Shirt und einem Stirnband, auf denen jeweils Stern und Sichelmond prangen. Was immer auch geordert wird, es muss schnell gehen. Jede Sekunde der Trennung vom TV-Gerät ist pure Quälerei. Dann plötzlich tosender Applaus! Dabei hat das Spiel noch gar nicht begonnen: die Hymne der Türkei.

Jetzt endlich, der Anpfiff. Es kann schon vorkommen, dass ein Tablett voll mit Krügerln eine Minute lang regungslos hochgestemmt wird, während der Mund weit offensteht und die Augen förmlich am Bildschirm kleben. Es ist ein liebenswertes Chaos, das sich den internationalen Gästen im “Kent” bietet. Doch egal ob Briten, Italiener, Deutsche oder Österreicher – sie nehmen es gelassen, schmunzeln, spielen gerne mit: “Ich melde mich, ok?”, sagt ein Mann zu seinem Kellner, lachte und ließ den armen Mann endlich zur Bar zurücksausen, wo wieder einmal eine rot-weiße Menschentraube versammelt steht.

Rechnungen, Wechselgeld – alles wird in Windeseile abgewickelt. Es grenzt an ein Wunder, dass es zu keinen Frontalzusammenstößen mit jeder Menge Glasbruch kommt, immerhin sind die “Kent”-Mitarbeiter mit höchstmöglicher Geschwindigkeit unterwegs. Tor für Portugal! Totenstille. Doch nicht – Abseits! Jubel brandet auf. Halbzeit – 15 Minuten volle Konzentration auf die Gäste. Dann schießt Pepe das 1:0 für die Portugiesen. Fassungslosigkeit. Der Ton unter den Kellner-Kollegen wird schärfer, die junge Generation, die mit der Lokalität noch nicht so vertraut sind, muss nun einiges einstecken.

Adana, Köfte, Sis-Kebab. Wie am Fließband werden die Speisen auf den Tischen verteilt. Die Stimmung ist etwas gedämpft, zumal der Gegner immer stärker wird und hochverdient führt. Ronaldo, Deco, Simao. Die Angriffe der Portugiesen laufen ebenfalls wie am Fließband. Bange Blicke. Und schon wieder möchte jemand zahlen. Oder doch bestellen? Ist das nicht egal in solchen Momenten? Das Leiden ist fast greifbar. Und dann in der 93. Minute das 0:2. “Zahlen bitte!” Ok, das wird jetzt wohl dauern.

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