Angststörungen und die Pandemie: Symptomatik massiv gesteigert

VOL.AT: Thema Angststörungen, gerade bei Jugendlichen: Wie manifestiert sich dieses Thema bei pro mente Vorarlberg? Wie viele Jugendliche wenden sich mit diesem Thema an euch und wie hat sich der Zulauf in den letzten Jahren entwickelt?
MMag. Dr. Martina Schelling: Ängste sind im Kindes- und Jugendalter weit verbreitet, aber nicht alle Ängste sind behandlungsbedürftig. So sind Entwicklungsängste Teil des Erwachsenwerdens, und Schüchternheit ist eine Temperamentseigenschaft ohne Störungscharakter. Angststörungen zeichnen sich hingegen durch starke und anhaltende Beeinträchtigungen aus, die die normale Entwicklung verhindern. Sie sind im Kindes- und Jugendalter die häufigsten psychischen Störungen überhaupt. Die Anzahl der Jugendlichen, welche unter diesem Thema leiden, wächst ständig und scheint nicht abzubrechen. Die Corona-Krise hat ängstliche Jugendliche noch weiter in ihrem Vermeidungsverhalten unterstützt was Symptome oft verschärft hat. Aus diesem Grund ist es durch die Corona-Krise zu einer Verdopplung der Ratsuchenden und Behandlungsbedürftigen Jugendlichen gekommen.
VOL.AT: Von welchen Ängsten reden wir hier, gerade beim jüngeren Klientel? Von welchen Altersschichten sprechen wir?
MMag. Dr. Martina Schelling: Jüngere Kinder leiden häufig unter diffusen Ängsten. Sprich, Kinder können die Emotion Angst oft nicht in Worte fassen. Einige Kinder klagen auch über Kopfweh und Schwindel. Hier ist jedoch wichtig vorerst immer die somatische Ebene abzuklären, sprich medizinische Untersuchungen einzuholen. Die wichtigsten Formen von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter sind:
- Trennungsangst
- Phobien
- Soziale Ängstlichkeit
In der Psychologie wird Angst als eine Emotion verstanden, die sich auf eine als bedrohlich empfundene Situation bezieht. Die Art der Bedrohung bleibt eher unbestimmt und geht mit Vorstellungen einher, was geschehen könnte. Davon abzugrenzen ist die Furcht: Sie bezieht sich auf eine konkrete Bedrohung und ist begründbar. Wirkt die Furcht jedoch übertrieben stark, löst sie eine unmittelbare Reaktion aus und kann zu körperlichen Symptomen und zu Vermeidungsverhalten führen. In einem solchen Fall spricht man von einer Phobie. Besteht für eine plötzliche und heftige Angstreaktion keine äußerlich erkennbare Gefahr, handelt es sich um Panik.

VOL.AT: Worin unterscheiden sich die Ängste bei jungen Männern bzw. Frauen?
MMag. Dr. Martina Schelling: In der Pubertät sind Mädchen doppelt so häufig wie Jungs von Ängsten betroffen. Jedes zehnte Kind erlebt im Verlauf seiner Entwicklung behandlungsbedürftige Angstzustände. Jungen und Mädchen sind im Kindesalter etwa gleich häufig betroffen – in der Adoleszenz trifft es Mädchen rund doppelt so häufig wie Buben.
VOL.AT: Inwiefern hat die Corona-Pandemie auf diese Thematik Einfluss genommen?
MMag. Dr. Martina Schelling: Circa 40 Prozent der Eltern von Kindern mit einer Angststörung haben ebenfalls eine Angststörung. Somit ist auch verständlich, dass Eltern welche besonders Angst vor Corona haben, diese auch auf die Kinder übertragen können. Die Corona-Pandemie hat generell bei den Menschen Ängste ausgelöst und somit hat sich die Symptomatik durch Corona massiv gesteigert.
VOL.AT: Welche Ressentiments sind gerade hier in Vorarlberg typisch? Gibt es Unterschiede zwischen Jugendlichen aus Talschaften bzw. städtischen Gebieten?
MMag. Dr. Martina Schelling: Bevor eine krankhafte Angst behandelt werden kann, muss sie erkannt werden. Für Eltern ist es nicht immer einfach zu entscheiden, wann eine Angst normal, wann sie klinisch relevant und wann es überhaupt eine Angst ist. "Kinder reden wenig über Ängste", und deshalb ist es sehr wichtig die Symptome abzuklären. Es liegt wohl nicht an der Talschaft oder dem städtischen Gebiet, sondern an der Aufmerksamkeit der Bezugspersonen die Symptome richtig zu bewerten und Experten hinzuzuziehen.
VOL.AT: Inwiefern werden Angststörungen oder generell psychische Erkrankungen bei Jugendlichen tabuisiert?
MMag. Dr. Martina Schelling: Es kommt öfter vor, dass Menschen glauben, dass man sich nur zusammenreißen müsse. Eine psychische Krankheit funktioniert aber nicht so. Wichtig ist es den Jugendlichen oder das Kind ernst zunehmen in seinen Sorgen und Nöten und ihn in seinen Bedürfnissen wahrzunehmen.
Video: Josef Hader über "Nevrland"
VOL.AT: In Kooperation mit dem Spielboden zeigt ihr am Sonntag den Film „Nevrland“. Worum dreht sich der Streifen?
MMag. Dr. Martina Schelling: Nevrland ist ein einzigartiger Film und hinterlässt nicht nur Nebenwirkungen, sondern schwingt nach. Ein spürbarer Versuch, Angststörung und deren körperliche Symptome visuell darzustellen. Ein Erleben intensiver Angst, anhaltend, episodisch. Die Darstellungen hinterlassen emotionale Spuren. Atmosphärisch, tiefgründig und direkt. Nevrland zeigt den Prozess der sexuellen Orientierung und der Selbstfindung. Eine Reise nach Nevrland, mit tiefgründigen Wunden, welche die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen lassen.

VOL.AT: An wen kann man sich wenden, wenn man selbst betroffen ist bzw. jemanden kennt, der sich in Beratung begeben sollte?
MMag. Dr. Martina Schelling: Auf jeden Fall an die niederschwelligen Anlaufstellen. Für Erwachsene steht der Sozialpsychiatrische Dienst (SpDi), welcher in Kooperation mit dem aks betrieben wird, zur Verfügung. Speziell für Jugendliche sowie deren Bezugspersonen gibt es in Dornbirn sowie in Nenzing die Möglichkeit vorbeizukommen und sich beraten zu lassen. (VOL.AT)
Filmtipp: "Nevrland", Sonntag im Spielboden Dornbirn.
Anlaufstellen für Betroffene:
Sozialpsychiatrischer Dienst (SpDi)
Niederschwellige Anlaufstelle für Erwachsene'
Standorte: Bregenz, Dornbirn, Feldkirch und Lingenau
www.spdi.at
Anlaufstelle für Jugendliche Oberland
Nenzing, Bahnhofstraße 26
Mo, Do, Fr: 09.00 bis 12.00 Uhr
Di, Mi: 13.00 bis 16.00 Uhr
+43 5525 63829
kiju.oberland@promente-v.at
Dornbirn
Kreuzgasse 1a
Mo, Do: 14.00 bis 18.00 Uhr
Di, Mi, Fr: 09.00 bis 13.00 Uhr
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