Warum True Crime uns so fasziniert – und was das mit unserer Psyche macht
Der Nervenkitzel des Grauens
Ob beim Einschlafen mit dem Podcast "Mordlust" im Ohr oder beim Binge-Watching von Netflix-Serien wie "Dahmer" – True Crime ist allgegenwärtig. Doch warum konsumieren wir diese oft brutalen Geschichten so leidenschaftlich?
Dr. Corinna Perchtold-Stefan, Psychologin an der Uni Graz, hat genau das untersucht. Sie führte die erste groß angelegte Studie zum Thema True Crime in Österreich durch. "In den letzten Jahren wurde sehr viel darüber spekuliert, warum Menschen, ganz besonders Frauen, sich so sehr für wahre Verbrechen interessieren und ob das nicht eine besorgniserregende Entwicklung ist", sagt sie.
Für ihre Studie befragte sie 600 Personen. Das Ergebnis: "Die Personen, die sich als True-Crime-Fans bezeichnen, sind tatsächlich eher weiblich. Etwa sieben Stunden pro Woche befassen sie sich mit wahren Verbrechen. Bei den Männern sind es rund drei Stunden." Zwei Hauptgründe nannte sie: "Frauen wollen durch True Crime lernen, wie sie sich besser auf Gefahren im echten Leben vorbereiten können." Und: "Frauen hofften eher, dass True Crime ihnen dabei hilft, besser mit ihren Ängsten und Sorgen rund um Verbrechen umzugehen."
Die Psyche verstehen – und sich sicherer fühlen
Warum wirkt True Crime auf so viele Menschen geradezu therapeutisch? "Wir Menschen haben das grundlegende Bedürfnis, das Unverständliche und Extreme zu verstehen und dadurch besser damit umgehen zu können", sagt Perchtold-Stefan. Dieses Interesse an düsteren Themen ist nicht auf Verbrechen beschränkt: "In der Forschung wird das Interesse an negativen oder angsteinflößenden Dingen als morbide Neugier bezeichnet", sagt die Wissenschafterin.
Die Idee: Wer sich in einer geschützten Umgebung mit angstbesetzten Inhalten auseinandersetzt, kann daraus lernen. "Man kann sich das wie ein mentales Fitnessstudio vorstellen", sagt Perchtold-Stefan.
Empathie, Spannung – und ein Hauch Selbstschutz
Viele geben an, durch True Crime ihre Sterblichkeit besser zu begreifen – und damit umgehen zu können. Gleichzeitig wollen wir verstehen: Warum handeln Menschen so? Was treibt sie? Lebensgeschichten von Tätern faszinieren uns, weil wir psychologische Motive erkennen wollen. Und: "Je mehr wir darüber wissen, desto sicherer fühlen wir uns."
Besonders Frauen scheinen empfänglicher für das Genre zu sein. Eine Theorie: "Eine verbreitete Idee aus der Forschung besagt, dass Frauen im Durchschnitt etwas empathischer sind als Männer. Sie neigen dazu, einfühlsamer und emotionaler zu sein. Aus diesem Grund könnten True-Crime-Geschichten für Frauen fesselnder und persönlicher sein, da sie sich besser in die Opfer sowie in die Täter hineinversetzen können." Allerdings sei diese Annahme "noch nicht ausreichend überprüft".
Ein weiterer Erklärungsansatz: "Frauen generell mehr Angst davor haben, Opfer eines Verbrechens zu werden. True Crime könnte demnach als eine Art Bewältigungsmechanismus dienen, um mit dieser Angst umzugehen."
Zwischen Nervenkitzel und Verantwortung
True Crime hat sich längst zu einem riesigen Markt entwickelt – mit Serien, Podcasts, Zeitschriften, Live-Tourneen. Doch wo endet das Interesse – und wo beginnt die Vermarktung von Leid?
"Bei True Crime wird das persönliche Schicksal von Menschen genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren", sagt Prof. Dr. Christian Schertz, einer der bekanntesten Medienanwälte Deutschlands. Und er legt nach: "Ich empfinde diese Situation als pervers und unerträglich." Schertz fordert ein postmortales Persönlichkeitsrecht, um zu verhindern, "dass aus Tragödien Profit geschlagen wird."
Der Weiße Ring – eine Organisation für Kriminalitätsopfer – warnt ebenfalls vor den Schattenseiten des Genres. Bundesvorstand Dr. Patrick Liesching schreibt im Editorial eines eigenen True-Crime-Magazins: "Liebe Leserinnen und Leser, bitte stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie zappen gemütlich auf dem Sofa durch das Fernsehprogramm und plötzlich sehen Sie ohne Vorwarnung nachgestellte Szenen, die den schrecklichen Mord an Ihrem Kind vor 20. Jahren zeigen. Wie würden Sie sich fühlen?"
Die dunkle Seite der Faszination
Die Grenzen zwischen Faszination und Fetischisierung verschwimmen mitunter. Besonders auffällig: der Fankult um Täter. In der Studie von Perchtold-Stefan gaben "sechs Prozent der Teilnehmerinnen an, für Straftäter zu schwärmen."
Ein aktueller Fall in den USA unterstreicht das: Ein Mann, der zwei Frauen ermordete und zum Tode verurteilt wurde, wird in sozialen Medien verehrt. Junge Frauen schicken ihm Briefe, posten Fan-Videos, fordern seine Freilassung.
Wie ist das möglich? "Wenn Frauen für Frauenmörder schwärmen, sind oft eigene Frauenfeindlichkeit und ein verzerrtes Bild von Männlichkeit im Spiel", sagt Nahlah Saimeh, forensische Psychiaterin aus Düsseldorf. Sie betont: "Bei Schwärmereien für Häftlinge seien die Frauen immer auf der sicheren Seite. Es gebe keine wirkliche Begegnung und kein gemeinsames Leben."
True Crime – Fluch oder Chance?
Nahlah Saimeh ist selbst oft als Expertin in True-Crime-Formaten zu sehen, warnt aber vor einseitiger Darstellung: "Meiner Meinung nach ist es eine durchaus zwiespältige Sache." Besonders problematisch sei es, "wenn True Crime ausschließlich – und auf Kosten der Opfer – Sensationslust befriedige." Auch reißerische Formate lehne sie ab. "Formate sind dann sinnvoll, wenn man durch sie ein besseres Bild vom Menschsein an sich erhalte."
True-Crime-Fans jedenfalls glauben laut Umfragen weniger daran, mit einem Verbrechen davonzukommen – vermutlich, weil sie genau wissen, wie schwierig es ist, Spuren zu verwischen und wie moderne Polizeiarbeit funktioniert.
Und auch wenn "Copycat-Crime" – also das Nachahmen von Taten – vereinzelt vorkommt, ist es selten auf Medienkonsum zurückzuführen. Wer aber psychisch vorbelastet ist, kann durch die Inhalte negativ beeinflusst werden. Doch das sind Einzelfälle.
Zwischen Gesellschaft und Geschäft
Das Genre bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Unterhaltung, zwischen berechtigtem Interesse und ethischer Grenze. Die Diskussion um True Crime ist damit auch eine Diskussion über Medienethik, Verantwortung – und unsere eigene Lust am Grauen.
(VOL.AT)