Es ist ein gewöhnlicher Sommertag, als das Telefon klingelt. Eine junge Athletin, Anfang 20, wird zu einem Gespräch mit dem nationalen Leichtathletikverband gebeten. Sie lebt inzwischen in einer fremden Stadt, trainiert täglich, arbeitet auf ihr Ziel hin: die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Die Einladung irritiert sie, sie weiß nicht, worum es gehen könnte.
Was sie dann erfährt, ist schwer in Worte zu fassen. Ein anonymer Hinweis, so erklärt man ihr, habe den Verband erreicht. Es gebe Aufnahmen von ihr. Heimlich gefilmt. In einer privaten, intimen Situation. Die Bilder seien inzwischen verbreitet worden. Sie sei dabei gewesen, mit einem Trainingskollegen – und völlig ahnungslos, dass eine Kamera lief.
Die Athletin ist fassungslos. Es braucht Zeit, bis sie begreift, was dieser Moment mit ihr gemacht hat. Bis sie spürt, dass nicht nur ein persönliches Vertrauen gebrochen wurde, sondern auch ein institutionelles.
Das Zerbrechen eines Versprechens
Der Mann, der die Aufnahmen gemacht hat, wird zunächst vom Trainingszentrum ausgeschlossen. Doch die Ruhe währt nur kurz. Einige Monate später steht er wieder auf dem Gelände. Ohne Ankündigung. Ohne Erklärung. Ohne jede Spur von Aufarbeitung.
- "Es gab kein offenes Gespräch, keine Entschuldigung, keine Einsicht", sagt die Athletin gegenüber "Runner's World". „Ich sollte einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen.“
Sie kann das nicht. Sie wendet sich an die Verantwortlichen, fragt nach. Die Antwort: ausweichend. Man wisse von nichts. Erst auf hartnäckiges Nachfragen gesteht der Technische Direktor, dass eine Rückkehr geplant sei – und dass man wohl wieder gemeinsam trainieren werde.
In diesem Moment trifft sie eine Entscheidung: Sie geht. Sie packt ihre Sachen, verlässt das Zentrum, trennt sich von ihrem Trainer, ihrer Gruppe, ihrer sportlichen Heimat. Und mit ihr verlässt auch der Traum von Paris die Bahn.
- "Ich war nicht schuld. Ich habe nichts falsch gemacht. Und trotzdem musste ich gehen", sagt sie heute.
Der Rückzug
Die Monate danach sind dunkel. Sie kehrt zurück in ihr Elternhaus, zieht sich zurück, beginnt eine Therapie, nimmt Antidepressiva. Nichts fühlt sich mehr stabil an. Sport? Unvorstellbar. Zukunft? Fraglich.
Sie verliert sich – und langsam, ganz langsam, beginnt sie, sich wiederzufinden.
Es ist eine leise Rückkehr, getragen von Menschen, die ihr guttun. Familie. Freunde. Und irgendwann: ein neues Team. Ein neuer Trainer. Ein anderer Ort. Andere Energie.
Der Moment des Sprechens
Lange schweigt sie über das Erlebte. Die Medien berichten, doch sie äußert sich nicht. Bis jetzt. In einem Interview mit dem Magazin Runner’s World spricht sie erstmals über die Monate, die folgten. Über Scham. Über Wut. Und über Vergebung.
Erst dort wird auch ihr Name bekannt: Zoë Sedney.
Geboren im Dezember 2001, aufgewachsen in Zoetermeer, gehört sie seit Jahren zu den größten Leichtathletik-Talenten ihres Landes. Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio war sie die jüngste Teilnehmerin in ihrer Disziplin, erreichte über 100 Meter Hürden Platz 24. Eine, die immer schneller war als die Zweifel. Eine, die sich nie auf ein einziges Rennen festlegen ließ.
Doch auch das half ihr nicht, als Vertrauen missbraucht wurde.
- "Was mir am meisten geholfen hat, ist Vergebung", sagt sie im Interview. "Es ist schwer, mit Groll herumzulaufen. Ich bin gläubig und glaube, dass es nicht an mir ist, zu urteilen."
Eine neue Richtung
Heute lebt und trainiert Sedney wieder. Nicht mehr in Papendal, sondern beim Team Para Atletiek unter Guido Bonsen. Sie studiert Bewegungswissenschaften, geht gerne spazieren, zeichnet, schreibt, lebt mit ihrem Partner Olivier.
"Ich kann ehrlich sagen, dass ich noch nie so glücklich war in meinem Leben."
Das sagt eine Frau, die all das nicht geplant hatte. Die einfach nur laufen wollte. Und plötzlich gezwungen war, zu stoppen – nicht auf der Bahn, sondern im Leben.
Und der Sport?
Sedneys Fall ist kein Einzelfall. Immer wieder zeigen sich in Sportverbänden dieselben Muster: Schweigen, Verdrängen, Wegsehen. Strukturen, die Schutz versprechen, aber Abhängigkeiten fördern. Täter kehren zurück. Opfer verschwinden.
- "Ich hatte das Gefühl, dass ich gehen musste, damit andere bleiben konnten", sagt Sedney.