AA

"Er musste stundenlang mit ansehen, wie seine Tiere qualvoll verendeten"

Reinhard Haller zur Wolfsdiskussion.
Reinhard Haller zur Wolfsdiskussion. ©Paulitsch/Canva
Psychiater Reinhard Haller über die seelischen Folgen von Wolfsrissen – und eine Gesellschaft, die wegschaut.

Rund 1.000 Schafe werden jährlich in Österreich von Wölfen gerissen. Und mit ihnen zerreißt es auch die Menschen dahinter. Reinhard Haller schildert erschütternde Szenen aus den Bergen – und stellt eine unbequeme Frage: Haben wir den Tierschutz vergessen, sobald es um Nutztiere und Hirten geht?

Jetzt auf VOL.AT lesen

Video: Reinhard Haller über die Frage mit dem Wolf

"Man lässt hier jegliche Empathie mit den Hauptbetroffenen vermissen"

In Österreich nimmt die Zahl der Wolfsrisse seit Jahren zu – besonders in den Alpenregionen. Immer häufiger dringen Wölfe in eingezäunte Koppeln ein und töten ganze Herden, oft ohne die Tiere zu fressen.

Wenn ein Mensch ein Tier verliert, das er jahrelang betreut, beschützt und begleitet hat – ist das dann nur ein wirtschaftlicher Schaden? Oder ist es ein seelischer Verlust? Der Psychiater und Bestsellerautor Reinhard Haller hat darauf eine klare Antwort: "Ich habe auch eine ganze Reihe von Traumatisierten behandelt."

Was für viele vielleicht unvorstellbar scheint, ist für Haller tägliche Realität. Die emotionalen Folgen eines Wolfsrisses reichen oft tiefer, als Außenstehende ahnen. "Diese Menschen haben auch eine Innenwelt." Haller nennt das, was viele Landwirte erleben, einen "sehr kaltherzigen Umgang". Und er ergänzt: "Man lässt hier jegliche Empathie mit den Hauptbetroffenen vermissen."

"Schockierendes und traumatisierendes Bild"

Die Beziehung zwischen Mensch und Tier sei oft tief emotional verwurzelt. Sie ist geprägt von täglicher Nähe, Fürsorge und Verantwortung. "Das ist keine Viehhaltung im industriellen Sinn – das ist ein Miteinander."

Haller erzählt von Momenten, die sich tief ins Gedächtnis der Betroffenen einbrennen: Wenn ein Hirte frühmorgens zu seiner Koppel kommt – und dort liegen zahlreiche Schafe tot in der Wiese. Zerfetzt, verstümmelt, mit herausgerissenen Körperteilen. "Ein unglaublich schockierendes und traumatisierendes Bild", sagt Haller.

Besonders schlimm sei es, wenn Tiere nicht sofort tot sind. Ein Bauer aus der Schweiz schilderte ihm, wie mehrere Schafe schwer verletzt im Zaun lagen – blutend, zuckend, im Todeskampf. Doch der zuständige Wildhüter war auf Urlaub, ein anderer krankgemeldet. "Er musste stundenlang mit ansehen, wie seine Tiere qualvoll verendeten – bis es endlich zur Erlösung kam", sagt Haller. Für ihn als Psychiater sind solche Szenen "etwas sehr Belastendes".

"Tierschutz darf nicht bei Haus- und Nutztieren enden"

Haller schlägt keine Ausrottung der Wölfe vor. "Es geht nicht darum, sie alle abzuknallen", betont er. "Aber wir müssen darüber sprechen, wo ihr Platz ist – und wo nicht." Die Idee, Wölfe in weitläufige, unbewohnte Regionen umzusiedeln, sei aus seiner Sicht eine vernünftige Option: "Ein Wolf kostet uns in Europa im Schnitt 50.000 Euro im Jahr – da könnten wir auch nachhaltige Lösungen finanzieren." Diese Zahl bezieht sich auf die direkten und indirekten Kosten, die durch den Wolf verursacht werden.

Der Psychiater ist kein Wolfshasser – im Gegenteil. "Ich finde Wölfe faszinierend. Sie sind intelligent, lernfähig und haben ihren Platz in der Natur." Aber: "Tierschutz darf doch nicht bei Haus- und Nutztieren enden." Es dürfe nicht sein, dass das Leid von Schafen, Ziegen oder Pferden einfach hingenommen wird, weil der Wolf unter besonderem Schutz steht.

Wenn 15 Schafe gerissen werden, von denen nicht eines gefressen wird, dann sei das keine Nahrungssuche, sondern ein Gemetzel. Psychologisch sei das Phänomen bemerkenswert: "Warum tötet der Wolf so viele Tiere, ohne sie zu fressen? Dafür gibt es bisher keine zufriedenstellende Erklärung", sagt Haller.

"Habe mich immer für die Schwächsten eingesetzt"

Seit Jahrzehnten setzt sich Haller in seiner Arbeit für jene ein, die keine Stimme haben – psychisch Kranke, Missbrauchsopfer, alte Menschen. Und nun auch für jene, deren Leben von der Rückkehr des Wolfs tief erschüttert wird.

"Ich habe mich immer für die Schwächsten eingesetzt und das werde ich auch in der Wolfsfrage weiterhin tun." Vor allem, da viele Landwirte aufgrund traumatischer Erlebnisse durch den Wolf, gedenken mit ihrem Beruf aufzuhören. "Wenn unsere Alpen nicht mehr bewirtschaftet werden, verlieren wir nicht nur eine Kultur, sondern auch einen ökologischen Schatz", meint Reinhard Haller abschließend.

(VOL.AT)

  • VIENNA.AT
  • Vorarlberg
  • "Er musste stundenlang mit ansehen, wie seine Tiere qualvoll verendeten"